Es stirbt in mir
entgleiten lassen, der Idiot. Ich fühle mich schuldbewußt, daß ich ihnen diese Enttäuschung bereiten muß. Und dennoch fühle ich mich nicht so schuldbewußt, wie ich gedacht hatte. Auf irgendeiner ultimativen Ebene kümmert es mich überhaupt nicht. So bin ich jetzt, sage ich mir. Ein Krüppel. So werde ich von nun an sein. Wenn’s euch nicht paßt – Pech gehabt. Versucht mich zu akzeptieren. Könnt ihr das nicht, ignoriert mich einfach.
»Wie die wahrhafteste Gesellschaft sich immer weiter der Einsamkeit nähert, so endet die hervorragendste Rede schließlich in Schweigen. Schweigen ist für alle Menschen zu allen Zeiten und an allen Orten hörbar.« Das sagte Thoreau 1849 in A Week on the Concord and Marrimack Rivers. Gewiß, Thoreau war ein Außenseiter mit sehr ernsten neurotischen Problemen. Als junger Mann verliebte er sich kurz nach der Collegezeit in ein junges Mädchen namens Ellen Sewall, aber sie gab ihm einen Korb, und er heiratete nie. Ich möchte wissen, ob er es je mit einer Frau getrieben hat. Wahrscheinlich nicht. Ich kann mir Thoreau nicht beim Vögeln vorstellen – Sie vielleicht? Na ja, vielleicht ist auch er nicht als Jungfrau gestorben, aber sein Geschlechtsleben war zweifellos mies. Vielleicht hat er nicht einmal onaniert. Können Sie sich das vorstellen, wie er an diesem Teich sitzt und sich einen abwichst? Ich nicht. Armer Thoreau. Schweigen ist hörbar, Henry.
Als ich in die Nähe von Judiths Wohnung komme, bilde ich mir ein, auf der Straße Toni zu erkennen. Ich glaube vom Riverside Drive her eine hochgewachsene Gestalt auf mich zukommen zu sehen, ohne Hut, in einen dicken, orangefarbenen Mantel gewickelt. Als wir noch einen halben Häuserblock voneinander entfernt sind, erkenne ich sie. Seltsamerweise beunruhigt oder erregt mich diese unerwartete Begegnung überhaupt nicht; ich bin ganz ruhig, beinahe unbewegt. Früher wäre ich, um einem möglicherweise schmerzlichen Wiedersehen aus dem Wege zu gehen, wohl auf die andere Straßenseite hinübergewechselt, jetzt aber bleibe ich gelassen stehen, lächele und hebe grüßend die Hände. »Toni?« sagte ich fragend. »Erkennst du mich nicht?«
Sie musterte mich, runzelte die Stirn, scheint einen Augenblick verwirrt. Aber nur einen Augenblick.
»Ja, David! Hallo!«
Ihr Gesicht ist schmaler geworden, die Wangenknochen wirken höher und schärfer modelliert. Durch ihr Haar ziehen sich graue Strähnen. Damals, als ich sie kannte, hatte sie an der Schläfe eine komische graue Locke; jetzt nistet das Grau überall zwischen dem Schwarz. Nun ja, immerhin ist sie jetzt Mitte Dreißig. Nicht gerade ein junges Mädchen. Tatsächlich, sie ist jetzt so alt, wie ich war, als ich sie kennenlernte. Aber ich weiß natürlich genau, daß sie sich kaum verändert hat, daß sie nur ein bißchen reifer geworden ist. Auf mich wirkt sie so schön wie eh und je. Trotzdem spüre ich kein Begehren. Deine Leidenschaft ist ausgebrannt, Selig. Ganz und gar ausgebrannt. Und auch sie ist wunderbarerweise frei von verwirrenden Gefühlen. Ich erinnere mich an unser letztes Zusammentreffen, an den gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht, den Aschenbecher voll Zigarettenstummeln. Jetzt ist ihre Miene freundlich und gelassen. Wir haben beide viele Stürme überstanden.
»Du siehst gut aus«, sage ich. »Wie lange ist es eigentlich her? Acht Jahre? Nein?«
Die Antwort kenne ich genau. Ich will sie nur testen. Und sie besteht diese Probe. »Im Sommer 1968«, sagt sie. Ich bin erleichtert, daß sie es nicht vergessen hat. Ich bin also immer noch ein Kapitel ihrer Autobiographie. »Wie ist es dir ergangen, David?«
»Nicht schlecht.« Nichtssagende Bemerkungen. »Und was machst du jetzt?«
»Ich bin bei Random House. Und du?«
»Freiberuflich«, antworte ich. »Da und dort.« Ist sie verheiratet? Ihre behandschuhten Hände geben keinen Hinweis. Zu fragen wage ich sie nicht. Sondieren kann ich nicht. Ich zwinge mich zu einem Lächeln und verlege mein Gewicht auf den anderen Fuß. Das Schweigen, das zwischen uns entstanden ist, erscheint plötzlich unüberbrückbar. Haben wir die unverbindlichen Themen so schnell erschöpft? Gibt es außer den zu schmerzlichen keinerlei Kontaktmöglichkeiten mehr?
»Du hast dich verändert«, sagt sie.
»Ich bin älter geworden. Müder. Kahler.«
»Das ist es nicht. Du hast dich innerlich verändert.«
»Das ist wohl möglich.«
»Früher fühlte ich mich in deiner Gegenwart immer unbehaglich. Jetzt nicht mehr.«
»Du meinst,
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