Es stirbt in mir
nach dem Trip?«
»Vorher und nachher«, antwortet sie.
»Du hast dich wirklich immer unbehaglich gefühlt?«
»Immer. Warum, wußte ich nicht. Selbst wenn wir einander wirklich nahe waren, war ich… ach, ich weiß nicht recht… mißtrauisch, nicht im Gleichgewicht, unruhig. Dieses Gefühl ist jetzt verschwunden. Völlig. Ich möchte wirklich wissen, warum.«
»Die Zeit heilt alle Wunden«, sage ich. Zweideutige Weisheit.
»Ich glaube, du hast recht. Gott, ist das kalt! Glaubst du, daß es schneien wird?«
»Bestimmt. Schon bald.«
»Ich hasse die Kälte.« Sie hüllt sich fester in ihren Mantel. Ich habe sie nie in der Kälte gekannt. Frühling und Sommer, und dann lebwohl, verschwinde, lebwohl, lebwohl. Komisch, wie wenig ich jetzt für sie empfinde. Wenn sie mich in ihre Wohnung einladen würde, ich würde wahrscheinlich sagen, nein danke, ich bin auf dem Weg zu meiner Schwester. Natürlich ist sie nur eine Einbildung; vielleicht spielt das dabei eine Rolle. Aber ich nehme an ihr auch keine Aura wahr. Sie sendet nicht, oder vielmehr, ich empfange nicht. Sie ist nur eine Statue, genau wie die Katzen in den Torwegen. Werde ich auch nicht mehr empfinden können, jetzt, da ich nicht mehr empfangen kann? »Es war schön, dich wiederzusehen, David«, sagt sie. »Wir müssen mal wieder zusammenkommen, nicht wahr?«
»Aber natürlich. Wir werden was trinken und uns über die alten Zeiten unterhalten.«
»Das wäre schön.«
»Finde ich auch.«
»Paß gut auf dich auf, David.«
»Du auch, Toni.«
Wir lächeln. Ein bißchen konisch salutiere ich militärisch. Wir trennen uns; ich gehe weiter westwärts, sie eilt die windige Straße entlang zum Broadway. Ich fühle ein bißchen mehr Wärme durch diese Begegnung mit ihr. Alles ruhig, freundlich, gelassen zwischen uns. Das heißt, alles tot. Die Leidenschaft ausgebrannt. Es war schön, dich wiederzusehen, David. Wir müssen mal wieder zusammenkommen, nicht wahr? Als ich an der Ecke bin, fällt mir ein, daß ich vergessen habe, sie nach ihrer Telefonnummer zu fragen. Toni? Toni? Aber sie ist schon verschwunden. Als wäre sie nie dagewesen.
Es ist der kleine Sprung in der Laute,
Der nach und nach die Musik verstummen läßt,
Und der, sich verbreiternd, langsam alles zum
Schweigen bringt.
Das ist Tennyson: Merling and Vivien. Den Vers über den Sprung in der Laute haben Sie ja schon gehört, nicht wahr? Aber Sie wußten nie, daß es Tennyson ist. Ich auch nicht. Meine Laute ist gesprungen. Twang. Twing. Twong.
Hier eine weitere literarische Kostbarkeit:
Jeder Ton endet in Schweigen, aber das Schweigen endet nie.
Das schrieb Samuel Miller Hageman 1876 in einem Gedicht mit dem Titel Silence. Haben Sie je von Samuel Miller Hageman gehört? Ich nicht. Du warst ein weiser alter Knabe, Sam, wer immer du gewesen bist.
Eines Sommers, als ich acht oder neun Jahre alt war – auf jeden Fall, bevor sie Judith adoptierten –, fuhr ich mit meinen Eltern für ein paar Wochen in einen Ferienort in den Catskills. Es gab da eine Art Tagesstätte für Kinder, wo wir Unterricht in Schwimmen, Tennis, Softball, Werken und anderen Fächern erhielten, damit die Erwachsenen Zeit für Ginrummy und kreatives Trinken hatten. Eines nachmittags arrangierten die Erzieher mehrere Boxkämpfe. Ich hatte noch nie Boxhandschuhe getragen, und bei den üblichen Prügeleien hatte ich mich stets als wenig schlagkräftig erwiesen, also war ich überhaupt nicht begeistert. Voll Angst sah ich den ersten fünf Kämpfen zu. Soviel Schläge! Und so viele blutige Nasen!
Dann kam schließlich auch ich an die Reihe. Mein Gegner war ein Junge namens Jimmy, ein paar Monate jünger als ich, aber größer, schwerer und weit sportlicher. Ich glaube, die Erzieher hatten uns absichtlich zusammengetan, weil sie hofften, daß Jimmy mich fertigmachen würde: Ich war nicht gerade ihr Lieblingskind. Ich fing an zu zittern, bevor man mir überhaupt die Handschuhe schnürte. »Erste Runde!« rief ein Erzieher, und wir gingen aufeinander zu. Ich hörte deutlich, wie Jimmy dachte, daß er auf mein Kinn zielen wollte, deswegen duckte ich mich, als sein Handschuh auf mein Gesicht zufuhr, und boxte ihn in den Bauch. Da wurde er wütend. Jetzt wollte er mir eins über den Schädel ziehen, aber ich sah auch das kommen, machte einen Sidestep und traf ihn in den Hals dicht neben seinen Adamsapfel. Er würgte und mußte sich, fast unter Tränen, abwenden. Nach einem Augenblick ging er wieder zum Angriff über, aber ich sah
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