Esper unter uns
1.
Gleich beim Öffnen der Fahrstuhltür spürte Victor den gewaltigen Herzschlag, der immer lauter wurde, als er den schmutzigen Korridor entlangschritt. Näher an der Wohnungstür überlagerte das Klirren und Schmettern der Trommeln und Rumbakugeln und das Schrillen einer Flöte den dröhnenden Baß. Vor der Tür hielt er kurz an, um sich darauf vorzubereiten, in eine Flut von Reggae zu tauchen. Dann öffnete er sie. In der kleinen Diele drängten sich mindestens sechs junge Paare aneinander. Ein etwa fünfzehnjähriges Mädchen – war es Diana oder Peggy? –, jedenfalls eine von Flowers Schwestern, lächelte ihm zu. Ihr Begleiter starrte ihm mißtrauisch entgegen. Das Wort Anglo sprang Victor aus der obersten Ebene des Geistes dieses Jungen entgegen. Für diesen Burschen war Victor ein unwillkommener Eindringling in die farbige Phantasiewelt des Samstagabends, ein Angehöriger des gescheiterten Eldorados draußen mit seinem grauen Himmel und den Menschen mit ihrer fahlen Haut, der unliebsam an Montag morgen mit Overalls und Schweiß erinnerte.
Victor trat ins Wohnzimmer. Es war, als nehme einen die größte Trommel der Welt auf. Reggae brauste aus Säulen übereinandergestapelter Lautsprecher zu beiden Seiten des Raumes und wurde durch die Lautstärke, die jegliches Maß des Hörvermögens überschritt, nicht mehr mit den Ohren, sondern dem gesamten Körper aufgenommen.
In der Mitte tanzten Frauen in Kleidern mit tropischen Mustern und Farben mit Männern in gestickten und mit Pailletten verzierten Hemden und Hosen. Der appetitanregende Geruch von braunem Rum mit Ananas und in Fett gebackenen Hühnchen vermischte sich mit dem von Schweiß und Ganja-Rauch.
Rotschopf – endlich! Der erfreute Begrüßungsgedanke Flowers war stark und nah, trotz des allgegenwärtigen Psigeräuschs der Partygäste.
Er blickte hoch und sah sie an der offenen Küchentür stehen. Sie trug einen Kaftan, und ihr pechschwarzes kurzgeschnittenes Haar glänzte.
Braunes Mädchen, du bist wunderschön! Er bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden und bemühte sich, nicht gegen die Gläser der Herumstehenden zu stoßen.
Und du bist viel zu nüchtern. Ich bringe dir von Mamas Stimmungsmacher.
Gut. Aber vergiß nicht, daß ich nicht eure durch lange Gewohnheit errungene Immunität habe.
Ich werde dafür sorgen, daß auch du sie bekommst. Sie grinste vergnügt und verschwand in der Küche.
Als die Musik eine Pause machte, traf der Haßstrahl ihn völlig unerwartet. Er drang durch seinen Psischutzschild, den er ständig aufrechthielt, und ließ ihn wie von einem physischen Schlag zurücktaumeln. Er war von völlig anderer Art als die Reaktion des Jungen in der Diele bei seinem Anblick. In seiner Konzentration mörderischen Feindseligkeit war er betäubend.
An seiner Art erkannte er den Angriff als ein Psiphänomen, wie es manchmal von sogenannten Gehirnen unter Streß zustande kommt. Es war eine Emotion von solcher Kraft, daß sie unwillkürlich explosionsartig ausgestoßen wurde. Er senkte den hastig errichteten stärkeren Schirm und tastete die oberste Bewußtseinsebene der Menschen in seiner unmittelbaren Umgebung ab. Der unausgebildete Geist, der für den Haßstoß verantwortlich war, konnte eine solche Kraft nicht mehr aufrechthalten, nachdem der emotionale Druck sich entladen hatte. Der Geist des Angreifers war zu seiner normalen Aktivität zurückgekehrt und vermischte sich mit dem allgemeinen Psigeräusch der Menge.
Flower kehrte mit einem Glas in jeder Hand aus der Küche zurück. Sie legte den Kopf schief und schaute ihn beunruhigt an.
Was ist passiert?
Jemand warf eine ganze Ladung Haß auf mich. Nichts, worüber du dir Sorgen machen mußt.
Nichts, worüber ich mir Sorgen machen muß? In meinem eigenen Zuhause?
Deines, Liebling! Ich bin hier ein Eindringling, ein unerwünschter Anglo.
Von wegen! Ich liebe dich. Jeder hier weiß von dir und mir.
Deshalb braucht es ihnen noch lange nicht zu gefallen!
Aber wer?
Unmöglich, es festzustellen. Wie dem auch sei, es ist vorbei. Kein Nichtadept kann eine solche Psikraft zweimal an einem Abend aufbringen.
Das vielleicht nicht, aber es gibt andere Wege, den Haß abzureagieren.
Denk nicht mehr daran – heute wird gefeiert. Und genug jetzt der Gedankenunterhaltung. Man wird uns für verrückt halten, so wie wir uns endlos stumm gegenüberstehen.
Er nahm ihr eines der Gläser ab. »Danke, Schatz, ich kann es wirklich brauchen.« Die Bowle war süß, gut gekühlt und
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