Europa erfindet die Zigeuner: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung (German Edition)
Feinderklärungen an ein imaginäres Kollektiv, das in Deutschland Zigeuner genannt wird. Doch mit dem distanzierenden Ausschluss verschwindet die Bedrohung nicht. Nur der Abstand hat sich vergrößert. Die Ausgrenzung bricht die Beziehung nicht ab, sondern regelt sie einseitig und zum Nachteil der Ausgegrenzten. Sie weist ihnen ›ganz unten‹ einen sozialen Ort und Rang zu, den sie jederzeit wieder verlassen könnten. Um diese Unausschließbarkeit zu überwinden, bietet sich nur ein Weg an: die (räumliche) Vertreibung und die (biologische) Vernichtung. Dieser Weg liegt in der Logik einer als allgegenwärtig empfundenen Bedrohung durch die ›Zigeuner‹. In diesem Buch wurde gezeigt, wie die Literatur dafür Szenarien entworfen und Erzählungen geliefert hat, »bis es keine Handlung mehr gab, die an ihnen zu vollziehen noch als Verbrechen erschienen wäre [. . .].« 1 Die subjektiv empfundene Bedrohung wird in den imaginären Konstruktionen des Zigeuners jedoch nur für den Augenblick gebannt. Ihr Bedeutungsüberschuss verfehlt und entstellt die Wirklichkeit. Noch in den Bildern des Andersartigen, Niedrigen, Verachteten, Bösen lauert deshalb die Furcht vor dem Zusammenbruch der Konstruktion. Es genügt nicht, sie wie ein Gerücht in die Welt zu setzen. Sie muss ständig aufrechterhalten, verstärkt, verändert und erneut in Umlauf gebracht werden. Darin ist die stupide Wiederholung ebenso eingeschlossen wie die raffinierte Variation und die Anpassung an neues Wissen.
Zweitens zementiert sich eine gegen jegliche Erfahrung resistente Gewissheit, dass ein Zusammenleben mit den Romvölkern auf Dauer unmöglich und stets mit unkalkulierbaren Risiken verbunden und für die Mehrheitsbevölkerung von Nachteil ist. Dieses Moment lenkt von der hoch emotional besetzten Vorstellung unheimlicher Bedrohung ab und öffnet einen Raum scheinbar rationaler Überlegungen. Die Gründe, die für die ablehnende Haltung angeführt werden, sind vielfältig. Ihnen liegen Deutungen der Lebensweise der Romvölker zugrunde, die die erwünschte Zurückweisung evident erscheinen lassen. Wegen der Lügenhaftigkeit und Falschheit könne kein Vertrauen zu ihnen aufgebaut werden. Das parasitäre Verhalten zerstöre das soziale Gleichgewicht und unterminiere das Arbeitsethos und die Disziplin jeder nach Wohlstand und Gemeinwohl strebenden Gesellschaft. Das Nomadentum verhindere die erforderliche Kontrolle und Gesetzesloyalität. Wandertrieb, fehlende Ausdauer und zivilisatorische Rückständigkeit würden ohnehin zum Scheitern jedes Integrationsversuchs führen.
Drittens wird die zivilisatorische Entwicklung Europas in den entsprechenden Texten am Abstand zu den Romvölkern gemessen. Mit den Ergebnissen lassen sich zwar keine nationalen Hegemonialansprüche begründen, doch für die aus westeuropäischer Sicht rückständigen südosteuropäischen Völker führt der Vergleich zu der beruhigenden Vorstellung, nicht am Ende der Völkerhierarchie zu stehen und mit den ›Zigeunern‹ ein verachtetes Volk unter sich zu wissen. Durch die Geschichte hindurch lässt sich verfolgen, dass mit der steigenden Gewissheit zivilisatorischen Fortschreitens der ›Wert‹, der den Romvölkern zugemessen wird, sinkt – und dies obwohl die Romantik an ihnen faszinierende Seiten zu entdecken glaubt und ihre Lebensweise als antibürgerlich und von Zivilisationsschäden unberührt deutet. Vor dem Hintergrund der Entstehung der modernen Nationalstaaten wird die Enteuropäisierung der Romvölker und damit ihre ethnische Desintegration in mehreren Schüben vorangetrieben. ›Zigeuner‹ werden deshalb bis heute nicht als Teil der vielgestaltigen europäischen Völkergemeinschaft wahrgenommen. Nicht Ähnlichkeiten oder der kleinste gemeinsame Nenner interessieren, sondern die größtmöglichen Unterschiede.
Ein weiteres Moment kommt hinzu, dem in diesem Buch eine wichtige Bedeutung zugemessen wird. Die symbolischen Repräsentationen der Romvölker, die Bilder, die man sich von ihnen macht, und die Geschichten, die man über sie erzählt, sind schon in den Stadtchroniken entscheidender für ihre soziale Verortung als die Ethnie ›an sich‹. Selbst der Rassismus des 20. Jahrhunderts, der überzeugt davon ist, sich den ›Zigeuner-Körpern‹ zuzuwenden, greift auf nichts anderes als auf diese Repräsentationen zurück, denen er ein paar dürftige biologische Daten beimischt. Nicht die biologische Begründung, sondern das, was man schon immer über die Zigeuner weiß,
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