Europa erfindet die Zigeuner: Eine Geschichte von Faszination und Verachtung (German Edition)
Epilog
Um den vielgestaltigen und komplexen Prozess der ›Erfindung‹ der Zigeuner, der sich über einen Zeitraum von sechshundert Jahren erstreckt, zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, habe ich bereits kapitelweise Bilanz gezogen. Vielleicht ist es dennoch erforderlich, zum Abschluss die Ergebnisse in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Das Verhältnis von nationalen Mehrheiten und ethnischen Minderheiten und die Spirale von Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung müssen vor dem Hintergrund der Entstehung des modernen Europa in den Blick genommen werden, ohne die untersuchten komplizierten Entwicklungen in ein allzu einfaches Geschehen zurückzuverwandeln. Wer gehofft hat, dass hinter den dargestellten Zerrbildern durch kritische Untersuchung am Ende die wirklichen Menschen hervortreten und die Wahrheit über die Romvölker erscheinen werde, wer mithin gehofft hat, dass sich die Erfindungen wie eine Schimäre auflösen, muss enttäuscht werden. Wissen kann den Aufgeklärten und Gutwilligen zur Selbstbeobachtung ermutigen, wirkliche Veränderung setzt mehr voraus: eine grundlegende Verbesserung der rechtlichen Verhältnisse, der sozialen Lage und der kulturellen Verständigung. Daran zu erinnern ist angesichts der gegenwärtigen Situation der Romvölker in Europa und der langen Geschichte der Verachtung alles andere als banal.
Es ist bemerkenswert, dass die Romvölker, die möglicherweise schon im Mittelalter aus Asien eingewandert sind, erst dann sichtbar werden (und bleiben), als die europäischen Gesellschaften sich nach einem gewaltigen und gewaltsamen Umbruch als eine moderne Ordnung verstehen, die sich der dynamischen Entwicklung verschrieben hat und vermeintliche oder tatsächliche Hindernisse beiseitezuräumen bereit ist, selbst wenn es sich dabei um Menschen handelt. Nur so ist der Furor zu erklären, mit dem man in allen Ländern auf die bis ins 19. Jahrhundert vermutlich sehr kleine Zahl der verstreut in Mittel-, West- und Nordeuropa umherziehenden Romgruppen reagiert. Sie kommen unerwünscht, aber doch wie gerufen, um in Abgrenzung zu ihnen das Bild einer europäischen Kultur zu schaffen, das in den Bildungskonzepten und Zivilisationsprogrammen des 18. und 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt und im Rassismus des 20. Jahrhunderts seinen Tiefpunkt erreicht. Hinter dem Rand, an den die Romvölker nach ihrer Entdeckung gedrängt werden, taucht nur ein weiteres Jahrhundert später der Abgrund der Vernichtung auf. Weil das so ist, sind Wahrnehmung und Wissen immer schon symbolisch aufgeladen. Das Sprechen und Schreiben über sie geschieht selten mit ruhiger Stimme oder Hand. Es erzeugt einen Überhang an Bedeutung, der auf vieles verweist, aber kaum etwas über die Romvölker aussagt. Er kreist um das, was im Buch als Faszination und Verachtung bezeichnet wird. Der Umgang mit den Fremden und der Prozess ihrer Marginalisierung und Ausgrenzung kann an der Geschichte der kulturellen Repräsentation der Romvölker als Zigeuner bei aller Besonderheit exemplarisch gezeigt werden. Mehr noch: Ihre Ausgrenzung geschieht unverbrämt und ohne Hemmung und Scham. Die Akteure können sich in der Regel auf die Zustimmung selbst der kritischen Geister, der Vorsichtigen und der üblicherweise Anständigen verlassen. Moralische Stoppregeln gelangen nur in seltenen Fällen zur Geltung. Was also lässt sich beobachten? Es sind vor allem vier Momente, deren Verknüpfung im Fall der Romvölker besonders eng ist und die sich kontinuierlich über Jahrhunderte trotz eines tief greifenden gesellschaftlichen Wandels nicht gelockert hat.
Erstens wird die bloße Existenz der Romvölker als allgegenwärtige Bedrohung empfunden. Die Furcht nährt sich aus der Vorstellung, dass die unbegreiflichen Fremden eine tödliche Gefahr bilden. Sie wird u. a. in Bildern des verschlagenen Wilden, des Raubtiers, des Seuchenträgers, der triebhaften Kreatur präsentiert. In ihrer Nähe, so die Geschichten, die erzählt werden, muss man ständig auf der Hut vor einem Übergriff sein. Dabei spielt die Erfahrung mit Einzelnen keine Rolle. Es zählt ausschließlich die Identifizierung als Mitglied der fremden Gemeinschaft. Die gefühlte Bedrohung verlangt als Antwort einen Abstand, der vollständig auf diese Gruppe bezogen und nicht nur räumlich geschaffen werden muss. Genau hier beginnt die ›Erfindung‹ der Romvölker als das Andere der europäischen Gesellschaften, die ermöglicht und umgesetzt wird durch eine niemals abreißende Serie von
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