Ewige Nacht
Mann, der ihr den Zettel gegeben hatte.
Noora zerknüllte den Zettel in der Faust und starrte dem Mann ins Gesicht, sie sah es scharf und klar wie durch ein Fernglas, ein Gesicht, in dem eine faszinierende Mischung aus Fanatismus, Bedingungslosigkeit und tiefem Frieden lag.
Dann stieß er sich ab und sprang kopfüber in die Tiefe.
Wie unter Hypnose verfolgte Noora den Fall, sie schloss nicht einmal die Augen, als der Körper mit dem Kopf voran auf der Straße aufschlug.
Ein Polizist erschien in der Fensteröffnung. Nooras Beine setzten sich in Bewegung, zuerst langsam, dann immer schneller.
Der Bettler an der Via Saluzzo lächelte ihr zu. » Ciao . Du schon wieder …«
Noora antwortete nicht, sie lief zielstrebig weiter. Auf der belebten Via Rodin blieb sie vor einem Tabaccaio-Laden stehen und wählte erneut die Nummer auf dem Zettel.
»Ihr gewünschter Gesprächspartner ist zurzeit nicht erreichbar …«, erklärte eine überdeutliche Frauenstimme.
Noora überlegte, welche Sachen sie in der Wohnung zurückgelassen hatte. Hauptsächlich Kleider – nichts, worüber man ihre Identität oder ihren Aufenthaltsort hätte ausfindig machen können.
Der Gedanke erschreckte sie. Warum sollte man sie suchen? Sie hatte nichts zu verheimlichen. Andere jedoch schienen ein Geheimnis zu haben – ein Geheimnis von solcher Tragweite, dass sie lieber den Tod wählten, als festgenommen zu werden.
Von dieser Vorstellung bekam sie eine Gänsehaut, und sie sah das beinahe heitere Gesicht des fallenden Mannes vor sich. Er war sich seiner Sache sicher gewesen. War sie es auch?
Was waren das für Dinge, in die Ralf verstrickt war? Noora war ihm erst eine Woche zuvor zum ersten Mal begegnet, und obwohl sie so gut wie nichts über ihn wusste, kam es ihr vor, als würden sie sich schon ihr ganzes Leben lang kennen.
Ralf Denk nahm die Felder neben der Autobahn und die Berge dahinter in den Blick. Man sah ihm die in der Sonne und im Freien verbrachten Jahre an. Für seine 42 Jahre hatte er schon relativ viele kleine Furchen im Gesicht, und die Bräune war auch im Nacken und auf dem Kopf durchgehend tief.
Die nördlichen Vororte von Genua waren längst hinter dem verbeulten Peugeot zurückgeblieben, allmählich ließ die Panik nach. Bis zur französischen Grenze war es nicht mehr weit. Sie waren noch einmal davongekommen – wenn auch nur knapp.
Wie hatte ihnen die Polizei nur auf die Spur kommen können? An welchem Punkt hatten sie einen Fehler gemacht?
Bittere Enttäuschung schnürte Ralf die Kehle zu. Zwei Jahre Arbeit waren umsonst gewesen, sämtliche Vorbereitungen, der Einsatz von elf Leuten und mehr als 320000 Euro.
Auf dem Rücksitz neben ihm lagen die Taschen, die nicht mehr in den Kofferraum gepasst hatten. Ralf trommelte mit den Fingern auf den Knien. Die weiche und gepflegte Haut dieser Finger stand in völligem Widerspruch zu der übrigen Erscheinung eines Mannes, der sich viel im Freien aufhält. Ganz in Gedanken schob er seine Hand in Nooras Tasche und befühlte die Jeans, das T-Shirt, die Unterwäsche.
Ralf spürte, dass Sakombi vorn am Steuer durch den Rückspiegel einen Blick auf ihn warf.
»Vergiss die Frau!«, sagte Sakombi.
Ralf schaute aus dem Fenster.
»Sie ist nicht stark genug«, fügte Sakombi hinzu.
»Sie ist stärker als du.«
Sakombi Ladawas schmale Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln. Die Hautfarbe des 58-jährigen Mannes war weder schwarz noch weiß, sondern irgendetwas dazwischen. Er hatte graues, gelocktes Haar, das sich von der Stirn und vom Scheitel schon weit zurückgezogen hatte, eine aristokratische Nase und einen scharfen Blick.
»Wir brauchen sie«, fuhr Ralf fort. »Was kann weniger Aufmerksamkeit erregen als eine junge Finnin?«
Während er sprach, schaltete er sein Handy ein. Er überlegte, was er sagen sollte, wenn Noora anrief. Was konnte er in einer solchen Situation schon sagen? Nichts kam ihm glaubwürdig vor, am wenigsten die Wahrheit.
Kaum war das Telefon eingeschaltet, klingelte es.
»Wo bist du?« Nooras Stimme war heiser und kraftlos. »Was ist passiert?«
Ralf drückte das Telefon ans Ohr und wich Sakombis Blick im Rückspiegel aus.
»Das erkläre ich dir später. Steig in den Zug und kauf dir eine Fahrkarte nach Nizza. Und steig gleich nach der Grenze in Menton wieder aus. Wir treffen uns dort um sechs im Bahnhofslokal.«
Ralf legte auf, felsenfest davon überzeugt, dass Noora kommen würde. Noora, die nicht die geringste Ahnung hatte, worum es
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