Ewige Nacht
einwarfen und ihre kleinen verbeulten Fiats ansteckten, ohne zu verstehen, dass es bei den Protesten gerade um sie ging. Die Grenze verlief hier nicht zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden, sondern zwischen denen, die ausbeuteten, und denen, die ausgebeutet wurden.
Von den jungen, schönen afrikanischen Prostituierten in ihren bunten Tops war keine zu sehen, auch von den Bettlern keine Spur – die Polizei hatte sie für drei Tage entfernt. Zumindest die meisten. An der Ecke zur Via Saluzzo saß wieder der Mann ohne Beine, dem Noora immer ein paar Münzen gab. Jetzt war sie zu aufgeregt, um ihn zu beachten. Schüsse auf Demonstranten – das würde gute Schlagzeilen bringen, aber ob die Heulsusen am Tatort wussten, wie man mit Journalisten umging?
»Come stai?«, fragte der Mann und lächelte sein zahnloses Lächeln.
»Benissimo«, entgegnete Noora, ohne sich ihrerseits zu einem Lächeln zwingen zu können.
Der Mann wurde ernst. »Was macht dich so unfreundlich?«
»Die Ungerechtigkeit«, sagte Noora in ihrem holprigen Italienisch. »Und die Bosheit.«
»Du willst Bosheit gesehen haben?«, fragte der Mann so undeutlich, dass Noora ihn nur mit Mühe verstand. Sie setzte ihren Weg durch die Viale Giustiniana fort, wo es aus einem Müllsack stank, den die Katzen aufgerissen hatten. Warum drängte Ralf in seiner SMS so auf Eile?
Obwohl sie den Lärm hinter sich gelassen hatte, lag noch immer eine unerklärliche Bedrohung in der Luft. Gewalt deprimierte Noora, aber wenn es nötig war, wusste sie, wie man sie einzusetzen hatte.
Die schwere Haustür knarrte in den Scharnieren, als Noora in das kühle Halbdunkel trat. Die Treppenstufen waren abgetreten, und auf der Jungfrau Maria in der Mauernische lag eine graue Staubschicht. Normalerweise genoss Noora die Atmosphäre dieses Treppenhauses, aber jetzt achtete sie nicht darauf, sondern eilte mit großen Schritten nach oben. Ihre bösen Vorahnungen verdichteten sich.
Das rhythmische, scharfe Klopfen gegen die alte Tür wurde nicht beantwortet. Noora versuchte es noch einmal und drückte das Ohr gegen das Holz. Drinnen war nichts zu hören.
Diese Stille war beklemmend. Ralf hatte versprochen, den ganzen Tag in der Wohnung zu bleiben, und er hatte Noora trotz ihrer Bitten keinen Schlüssel gegeben.
Noora wollte schon gehen, da öffnete sich die Tür, und ein unbekannter Mann flüsterte ihr auf Deutsch zu: »Lies das und zerreiß es anschließend! Verschwinde! Schnell!« Während er sprach, hielt er ihr einen Zettel hin, dann zog er die Tür wieder zu.
Irritiert stand Noora auf dem Treppenabsatz.
»Und meine Tasche?«, fragte sie verdutzt, aber nicht laut genug, als dass es durch die Tür zu hören gewesen wäre.
Die Stille verdichtete sich. In dem hellen Lichtstrahl, der durch das schmale Oberfenster fiel, tanzten die Staubpartikel.
Noora blickte auf den Zettel: nichts als eine Telefonnummer. Die Anbietervorwahl war die gleiche, wie sie Ralf zurzeit hatte. Er kaufte stets Prepaid-Karten und wechselte alle paar Tage die Nummer.
Noora ging auf die Straße hinunter, durch die in diesem Moment eine Vespa knatterte. Sie nahm ihr Handy und tippte die Nummer vom Zettel ein.
Das Geräusch eines stärkeren Motors ließ sie zusammenfahren. Sie blickte sich um. Mit hohem Tempo kam ein dunkelblauer Lieferwagen die Gasse entlang und hielt mit einer Vollbremsung. Am anderen Ende bog eine große Fiat-Limousine in die Gasse ein. Im selben Moment flogen die Hecktüren des Lieferwagens auf, und paarweise sprangen schwer bewaffnete Männer in schwarzen Overalls mit maskierten Gesichtern auf die Straße. Zwei, vier, sechs …
Instinktiv trat Noora ein paar Schritte zurück. Die Männer liefen zu der Tür hinein, aus der Noora gerade gekommen war.
Zielstrebig entfernte sie sich, ohne sich umzudrehen. Aber würde nicht gerade das Aufmerksamkeit erregen? Sie blieb kurz stehen und blickte zurück, wie es jeder neugierige Passant getan hätte. Jetzt bog ein Mannschaftswagen der Carabinieri in die Gasse ein.
Noora versuchte weiterzugehen, aber sie konnte nicht. Das Blut pulsierte in ihren Schläfen, sie drückte sich in einen Hauseingang, da zersplitterte oben ein Fenster, es regnete Glasscherben, und der hübsche alte Küchenstuhl mit dem Rosenmuster auf der Sitzfläche fiel auf die Straße.
Wenige Stunden zuvor hatte Noora noch auf diesem Stuhl gesessen und gefrühstückt.
Sie blickte nach oben und sah einen Mann auf der Fensterbank im dritten Stock stehen. Es war der
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