Extraleben
großem Gelächter auch tun. Im Bad geht der Luxus weiter: Die Toilette hat zwar ein Schloss, aber weder Klinke noch Schlüssel. Wer reinwill. muss an dem Stück Seife ziehen, das ein aufmerksamer Gast im Schlüsselloch verkeilt hat. »Do not remove batteries from smoke detector«, mahnt ein Schild neben dem Rauchmelder. So buchstabiert man Klasse. »So, jetzt werden wir mal ordentlich löten!«, witzelt Nick, während er unsere Einkaufstüten auf das Motelbett entleert. Wir schaufeln uns die ebenfalls an Bord geholten Burritos rein und gehen ans Werk. Die Aktion E. T. phone home läuft an. Nick fährt seinen Rechner hoch; er übernimmt wie üblich den Part des Programmierers, an mir bleibt das Schrauben hängen. Die erste Aufgabe lautet: Wir müssen einen Weg finden, eine Kiste voller Speichermodule auszulesen, durch die ein Vierteljahrhundert kein Strom geflossen ist. Zum Glück hat Nick im Netz eine Bauanleitung für ein Überspielkabel gefunden, die zwar auf den ersten Blick kompliziert aussieht, sich aber als ziemlich simpel entpuppt. Erst mal muss man die Cartridge mit ihren kupfernen Kontakten in einen Steckplatz schieben und den wiederum über Dutzende von Einzelkabeln mit einem alten PC-Druckerport verbinden. Den nötigen Atari-Steckplatz brechen wir aus der alten Konsole raus, die uns Atom-Ed mitverkauft hat. Da es in dem Lädchen am Ort keine Multicore-Kabel gab, müssen wir uns für die Verbindungen zum Druckerport mit Klingeldraht behelfen. So sieht unser Adapter schon nach ein paar Minuten wie eine alte Telefonvermittlung aus und reagiert extrem zickig, wenn man ihn auch nur bewegt. Egal, das Kabelknäuel muss ja nur einen Abend halten. Für Techniker ist ROM-Dumping natürlich total banal: An das alte Spielmodul wird ein digitaler Zähler angeschlossen, der von 0 bis 4095 hochzählt. der Chip im Innern gibt dann zu jeder Adresse das gespeicherte Byte aus, in etwa, als würde man mit einem Zeigerfinger über Zeilen in einem Buch fahren. Dabei kann eigentlich nichts passieren, solange man nicht die Stromversorgung mit einem Datenpin verwechselt und so den Chip in der Cartridge grillt. Nach einer halben Stunde - im Hintergrund flimmert »2001« über irgendeinen Oldiesender - ist das Kabelknäuel komplett und die Software steht. Das Programm wird die Daten aus der Cartridge auslesen, mit ausgelesenen Modulen aus dem Netz vergleichen und Unterschiede als Textdatei anzeigen. So weit zumindest der Plan. Nick lehnt sich siegesgewiss zurück und dreht sein Miller Light auf: »HAL, öffne die Schleuse.« Meine Fleißarbeit kann beginnen: Wie ein Roboter fische ich eine Cartridge aus dem Karton, fummele sie an den Adapter und gebe Nick das Zeichen zum Auslesen. Mit einem lässigen Tastendruck startet er sein Programm, das in Sekundenbruchteilen die lächerlichen 16KByte aus den ROM-Bausteinen saugt - sechs Schreibmaschinenseiten, die man theoretisch in einer halben Stunde auch abtippen könnte. Und dann geht es weiter: krack, Cartridge raus, nächstes Modul rein, Start. Zügig arbeiten wir uns durch den Karton. Obwohl wir theoretisch nach jedem ausgeweideten Oldie sofort checken könnten, ob die Datacorp auch hier eine Spur hinterlassen hatten, sparen wir uns aus dramaturgischen Gründen die Auswertung bis zum Schluss auf. Inzwischen geht Doktor Floyd dem Geheimnis am Boden des Tycho-Kraters auf den Grund. Zwischen zwei Cartridges schaue ich kurz zu Nick rüber. Von der Energie, mit der er heute Morgen noch seine Theorien vom digitalen Roswell verkündet hat, scheint auf einmal nichts mehr übrig zu sein. Er kauert müde am Kopf seines Bettes, und im Schein des Fernsehers zeichnen sich Augenringe ab, obwohl der Trip aus meiner Sicht bislang ziemlich entspannt ablief. Seine Beine und seine gesamten Habseligkeiten liegen sorgfältig auf der Bettdecke arrangiert. Das hat er gemacht, weil wir vorhin beim Auspacken im Dickicht des gelben Polyesterteppichs einen Nuttenfingernagel gefunden haben. Seitdem versuchen wir, direkten Kontakt mit dem Boden zu vermeiden. Über der Besucherspalte baumelt der Kabelstrang. »Ja klar, sehr realistisch«, grummelt Nick, während das Moonshuttle in den gigantischen Mondhangar hinabschwebt. Ich weiß, was er meint; bei dem Film kriegen wir beide spätestens nach zehn Minuten immer akute Astro-Nostalgie. Es ist diese Traurigkeit, die einen überfällt, wenn man merkt, dass die Welt vor der Tür des Zimmers 42 im Motel 5, Farmington, schon lange kein Interesse mehr daran hat, auf dem
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