Extraleben
meine ich etwas gehört zu haben, was nach Joni Mitchell klang.
LEVEL 02
Freitagabend, in einer mittelgroßen Stadt am Rhein. Nicks Wohnung liegt in einem Block, der Anfang der Achtziger gebaut wurde, also in einer Phase, als Messing und Rauchglas furchtbar angesagt waren. Bis heute gibt sich die Hausverwaltung alle Mühe, das Ambiente zu erhalten, und hat erst kürzlich auf allen Etagen neue gerahmte Kandinsky- Poster aufhängen lassen. In diesem Museum wohnt Nick, so lange ich denken kann. Wie lange genau, könnte ich gar nicht sagen, jedenfalls hat er schon ungefähr fünf Nachbarn überlebt. Das läuft immer gleich ab: Irgendein Student fährt mit seinem Kleinwagen vor, packt alles in die 40-Quadratmeter-Bude nebenan, klingelt bei Nick und verspricht, mit ihm mal einen trinken zu gehen. Wenn man den Typen das nächste Mal sieht, hat er sein Vordiplom in der Tasche und ein Mädel kennen gelernt, das schon provisorisch eingezogen ist. Nach ungefähr vier Monaten scheitert das Experiment, es zu zweit in diesem Stall auszuhalten. Dann fährt ein Kastenwagen fährt vor, und ihre Kommilitonen helfen ihnen beim Umzug in eine 100-Quadratmeter-Wohnung, wahrscheinlich ihr letzter Umzug mit Kumpelunterstützung. Und pronto: Der nächste Student kommt. Obwohl Nick immer steif und fest behauptet, dass er es »interessant« fände, wenn wieder ein neuer Nachbar einzieht, frisst es ihn insgeheim natürlich an - schließlich führt ihm jeder neue Ersti vor Augen, dass alle weiterziehen und nur er auf der Stelle tritt. Das, und die Sache mit Sabina, liegen ihm schwerer auf der Seele, als er zugibt. Umso wichtiger ist es mir, meinen besten Kumpel heute Abend ein wenig aufzuheitern, und womit ginge das besser als mit Ballern bis tief in die Nacht. Ich stehe im Aufzug und checke meine Ausrüstung: zwei Sechser Corona - Check, eine Packung Quaxi-Fröschli von Haribo für Nick - Check, eine Packung fettreduzierte Ofenchips für mich - Check. Das müsste für die ersten Runden reichen. Der Aufzug rumpelt in den dritten Stock, und ich stehe vor der Türmatte. die Nicks Mutter ihm zum Einzug geschenkt hat und auf der in großen grünen Buchstaben »Bed & Breakfast« steht; ihre Augen waren ein bisschen feucht, als sie ihm die überreicht hat, deshalb bringt es der alte Melancholiker nicht übers Herz, das zerfranste Jutemonster wegzuschmeißen. Es dauert eine Minute, bis Nick zur Tür geschlorrt ist. »Alles klar?«, murmelt er, schon halb wieder auf dem Weg zu seinem Sofaplatz. Sein Look ist heute Abend wieder ausgesucht elegant: Er trägt eine alte Jeans, schwarze Norwegersocken und ein weißes T-Shirt aus dem Dreierpack. das unterhalb des Kragens schon ein bisschen eingerissen ist. »Alles klar«, sage ich und haue mich neben ihm aufs Sofa. »Was spielen wir?« Das Coolste an Nicks Jetzt-wieder-Junggesellen-Medienbunker ist, dass er wirklich immer die allerneuesten Games da hat - neben dem topmodernen Heimkino ist das für ihn Ehrensache. Also zocken wir drauflos, ohne Rücksicht auf Rahmenhandlung. Intro, Handbuch oder Zwischenszenen. Ist ohnehin immer dasselbe: Irgendein Rick, Jim oder Tom, der früher mal bei einer supergeheimen Spezialeinheit war und da wegen Befehlsverweigerung rausgeflogen ist, will sich a) rächen, b) rehabilitieren oder c) die Welt vor einer Invasion von a) Aliens, b) anderen ehemaligen Spezialagenten oder c) einer bösen, ultrageheimen Organisation retten. Blablabla, und so weiter und so fort. Wir starren nach vorne und reden nur das Nötigste: Wie kann man zwischen den Waffen umschalten? Wie ducken? Kann ich auch 'nen Quaxi haben? Klar dauert es mittlerweile immer ein bisschen länger, bis wir ein neues Game beherrschen - man ist ja schließlich nicht mehr 16 und kann stundenlang ermüdungsfrei Commando zocken. Aber Egoshooter kommen dankenswerterweise ja nie aus der Mode. Von Strategiezeugs und Rollenspielen lassen wir grundsätzlich die Finger, dafür sind wir viel zu sehr Old School. Alles, wofür man ein Handbuch oder auch nur ein Bildschirmmenü durchlesen muss, taugt nichts, so lautet unser eisernes Gesetz. Die Instruktionen dürfen das Pong -Limit nicht überschreitenden erste Videospielautomat der Welt kam schließlich auch mit der Anleitung »Avoid missing ball for High Score« aus. In all den Jahren haben wir von dieser Regel, soweit ich mich erinnern kann, nur für Myst eine Ausnahme gemacht. Da sitzen wir also und zocken die Top-Ten der aktuellen Games runter bis zu den
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