Extraleben
unserer Bekannten, und uns sehr viele Gedanken um die Inneneinrichtung machen. Müssten. Und da ist er wieder, der große, lähmende Konjunktiv. Müsste. Seit Jahren bestimmt er unser Leben. Egal, was wir tun im Hinterkopf läuft ständig diese »Eigentlich müsste«-Subroutine ab: Eigentlich müsste man das Studium zu Ende bringen. Eigentlich müsste man in eine vernünftige Wohnung umziehen, eine Frau finden und sich überhaupt altersgemäß verhalten. Eigentlich, eigentlich. Dieser kategorische Konjunktiv lässt sich sogar noch steigern: »Eigentlich müsste man mal irgendwie.« Aus irgendeinem Grund haben wir den Abschied vom Studenten- Style trotzdem nie richtig hingekriegt. Wir hausen beide noch auf 30 Quadratmetern in einer Wohnung, die unsere Eltern früher wahrscheinlich »Bude« genannt hätten - schön in Uninähe, was seit Jahren schon nichts mehr bringt, da die Redaktion ziemlich genau am anderen Ende der Stadt liegt. Der Typ im Reisebüro bietet uns ganz automatisch die billigsten Flüge mit dreimal Umsteigen an statt der bequemen Direktdampfer. Und Nick kommt zu Partys manchmal noch ernsthaft mit einer Isomatte unterm Arm. Die wenigen Möbel, die in seiner Bude auch nur annähernd nach einem Einrichtungsplan aussehen, hat seine langjährige Freundin Sabina, ein Mädchen aus der Provinz mit dem Geschmack der Provinz, eingeschleppt. Leider sieht man das den Sachen auch an: An der Decke wellt sich eine Edelstahl-Halogenleiste entlang, die an beiden Seiten mit einer kleinen Pyramide aus fliederfarbenem Plastik abschließt; aus dem Nachlass ihrer Oma hat Sabina außerdem einen von innen beleuchteten Vitrinenschrank mitgebracht, und in der Küche zeugt noch reichlich Alessi-Kram von der Anwesenheit einer Frau. Kurz gesagt: Nick lebt in einer postmodernen Hölle. Und obwohl er das meiste Zeug auch hasst, will er partout nichts davon raus schmeißen, allein aus nostalgischen Gründen - wie sollte es anders sein. Denn Sabina hat vor zwei Monaten mit ihm Schluss gemacht. Es gehe »irgendwie nicht weiter«, sagt sie. Obwohl mir klar war, was sie damit meinte, nahm ich ihren Abflug nicht ernst - wahrscheinlich, weil ich ohnehin nie verstanden habe, was Nick an ihr so toll fand. Klar sagt sich das als Single einfach, aber Sabina ist eben eine dieser Frauen, die von außen wie von innen blass sind. Selbst mit ordentlich Make-up und hochhackigen Besorg's-mir-Sandalen - die an der Wade hochgeschnürten - fällt sie nicht wirklich auf. Für ihre einssechzig hat sie eine ordentliche Figur, wenn auch mit leichter Tendenz zur rheinischen Silhouette, Birne statt Sanduhr eben. Außerdem sind ihre Haare so Salz-und-Pfeffer-mäßig gesträhnt; damit sieht sie aus wie eine der Frauen aus der Internetporno-Kategorie »M.I.L.F.«- Mother I'd like to fuck . Doch was mich immer richtig an Sabina gestört hat, war diese Tranigkeit. Sie hatte nach der elften Klasse die Schule abgebrochen und eine Lehre als Bürokauffrau bei einer Spedition gemacht; zu dem Zeitpunkt war sie schon mit Nick zusammen. Seitdem hat sie nichts auch nur halbwegs Interessantes gesehen, gelesen oder gemacht. Ihr einziges Hobby ist Bogenschießen, und zwar die Lowtech-Variante mit Holzbogen und Darmsaite, und zu allem Überfluss im mittelalterlichen Kostüm. Auf eine ihrer Burgfräulein-Eskapaden hat sie Nick sogar mal mitgeschleift. Wie diese Tusse eine derartige Weisungsbefugnis über meinen sonst eher rationalen Kumpel bekommen konnte, wollte nie in meinen Kopf. Vielleicht nervte mich aber auch nur, dass ich jetzt nicht mehr weisungsbefugt war. Wer weiß. Jedenfalls erschien mir das Ende ihrer Beziehung wie eine Erlösung. Ich sah uns schon, zwei freie Männer, wie früher auf der Piste zu Zeiten von KLF, so gegen drei Uhr morgens. Daraus wurde jedoch nichts. Nick hat total abgebaut, ist noch entscheidungsfauler als je zuvor und macht insgesamt einen ziemlich mitgenommenen Eindruck. Zum Beispiel hat er in letzter Zeit immer häufiger diese senioren Momente: Dann starrt er mit seinen Paul-Newman-blauen Augen traurig ins Leere, als ob sein Hirn mit einer emotionalen Garbage Collection beschäftigt ist. Wir haben natürlich nicht drüber geredet. Warum auch? Es gibt halt Signale, die man als Kumpel sofort erkennt, dafür braucht man kein Gespräch bei Duftkerzen und Prosecco: Wie viele Assistenten in der Redaktion hört auch Nick, wenn er nicht gerade telefonieren muss, mit einem Kopfhörer Musik. Als ich letztens an seinem Schreibtisch vorbeigegangen bin,
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