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F (German Edition)

F (German Edition)

Titel: F (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Kehlmann
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den beiden Iwan war und wer Eric.
    Er betrachtete sie im Rückspiegel. Wie jedes Mal kam etwas an ihrer Ähnlichkeit ihm falsch vor, übertrieben, wider die Natur. Und dabei sollten sie erst einige Jahre später damit beginnen, sich gleich zu kleiden. Diese Phase, in der es ihnen Spaß machte, nicht unterscheidbar zu sein, sollte erst in ihrem achtzehnten Jahr enden, als sie für kurze Zeit selbst nicht mehr sicher wussten, wer von ihnen wer war. Danach sollte sie immer wieder das Gefühl überkommen, dass sie sich einmal verloren hatten und seither jeder das Leben des anderen führte; so wie Martin nie mehr ganz den Verdacht loswerden sollte, dass er eigentlich an jenem Nachmittag auf der Straße gestorben war.
    «Glotz nicht so blöd», sagte Eric.
    Martin fuhr herum und griff nach Erics Ohr. Beinahe hätte er es zu fassen bekommen, aber sein Bruder wich aus, packte seinen Arm und drehte ihn mit einem Ruck nach oben. Er schrie auf.
    Eric ließ los und stellte fröhlich fest: «Gleich weint er.»
    «Schwein», sagte Martin mit zitternder Stimme. «Blödes Schwein.»
    «Stimmt», sagte Iwan. «Gleich weint er.»
    «Schwein.»
    «Selber Schwein.»
    «Du bist das Schwein.»
    «Nein, du.»
    Dann fiel ihnen nichts mehr ein. Martin starrte aus dem Fenster, bis er sicher war, dass keine Tränen mehr kommen würden. Über die Schaufenster am Straßenrand glitt das Spiegelbild des Autos: verzerrt, gestreckt, zum Halbrund gekrümmt.
    «Wie geht es deiner Mutter?», fragte Arthur.
    Martin zögerte. Was sollte er darauf antworten? Arthur hatte diese Frage schon ganz zu Anfang gestellt, vor sieben Jahren, bei ihrer ersten Begegnung. Sehr hochgewachsen war sein Vater ihm vorgekommen, aber müde auch und abwesend, wie umgeben von feinem Nebel. Er hatte Scheu vor diesem Mann empfunden, aber zugleich, ohne dass er hätte sagen können, warum, auch Mitleid.
    «Wie geht es deiner Mutter?», hatte der Fremde gesagt, und Martin hatte sich gefragt, ob das nun tatsächlich der Mann war, den er so oft in seinen Träumen getroffen hatte, immer in dem gleichen schwarzen Regenmantel, stets ohne Gesicht. Aber erst an diesem Tag in der Eisdiele, während er in seinem Früchtebecher mit Schokoladensauce stocherte, war Martin klargeworden, wie sehr er es genossen hatte, keinen Vater zu haben. Kein Vorbild, keinen Vorgänger und keine Last, nur die vage Vorstellung von jemandem, der vielleicht eines Tages auftauchen würde. Und das sollte er nun sein? Seine Zähne waren nicht sehr gerade, seine Haare waren wirr, auf seinem Kragen war ein Fleck, und seine Hände sahen verwittert aus. Ein Mann war das, der auch ein anderer hätte sein können; ein Mann, der aussah wie irgendeiner der vielen Menschen auf der Straße, in der Bahn, irgendwo.
    «Wie alt bist du genau?»
    Martin hatte geschluckt und es ihm dann gesagt: sieben Jahre.
    «Und das ist deine Puppe?»
    Martin brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass sein Vater nach Frau Müller gefragt hatte. Er hatte sie wie immer dabei, er hielt sie unter dem Arm, ohne darüber nachzudenken.
    «Wie heißt sie denn?»
    Martin sagte es ihm.
    «Komischer Name.»
    Martin wusste nichts zu antworten. Frau Müller hatte immer so geheißen, das war einfach ihr Name. Er bemerkte, dass seine Nase lief. Er blickte um sich, aber Mama war nicht mehr zu sehen. Sie hatte schweigend die Eisdiele verlassen, sobald Arthur hereingekommen war.
    Wie oft Martin später auch an diesen Tag zurückdachte und wie sehr er sich bemühte, ihr Gespräch aus dem Dunkel seines Gedächtnisses zu holen, es wollte ihm nicht gelingen. Es lag wohl daran, dass er sich diese Unterhaltung vorher zu oft ausgemalt hatte und dass die Dinge, die sie tatsächlich zueinander sagten, schon kurz darauf mit jenen, die er in all den Jahren erfunden hatte, in eins geflossen waren: Hatte Arthur ihm wirklich gesagt, er habe keinen Beruf und bringe das Leben damit zu, über das Leben nachzudenken, oder war es nur so, dass Martin diese Antwort später, als er mehr über seinen Vater wusste, für die einzig passende hielt? Und konnte es sein, dass Arthur auf die Frage, warum er ihn und seine Mutter alleingelassen habe, wirklich entgegnet hatte, wer sich der Gefangenschaft, dem kleinen Leben, dem Mittelmaß und der Verzweiflung überantworte, der könne keinem anderen helfen, weil auch ihm nicht zu helfen sei, der bekomme Krebs, dessen Herz verfette, der lebe nicht lange und verwese bei noch atmendem Leib? Es war Arthur durchaus zuzutrauen, einem

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