Fallen Angel 07 Tanz der Rose
nachts Milch benötigte, führte den Auftrag jedoch getreulich aus.
Stephen spülte eine Opiumpille mit einem Glas Milch hinunter. Die kühle Flüssigkeit war in letzter Zeit fast das einzige, wogegen sein Magen nicht rebellierte. Er trat ans Fenster und schob den Vorhang beiseite: Die Morgendämmerung war nicht mehr fern, und in wenigen Stunden würde er Rosalind nach Richmond bringen, damit sie ihre Großmutter und andere Angehörige kennenlernte. Nachdem sie sich vom ersten Schock erholt hatte, strahlte sie inneren Frieden aus. Die traumatischen Kindheitserlebnisse, an die sie sich schlagartig erinnert hatte, würden sie bestimmt noch lange verfolgen, doch dafür wußte sie nun endlich, wer sie war.
Weil Stephen erst ins Bett zurückkehren wollte, wenn das Opium wirkte, machte er es sich vorerst im Sessel bequem und überlegte, welche wichtigen Angelegenheiten er noch regeln mußte. Sein Testament war abgefaßt und unterschrieben, er hatte alle Schulden beglichen, die Wohltätigkeitsfonds abgesichert und Kirby Manor an Rosalind übertragen. In wenigen Tagen würden sie in die Abtei reisen können, und er hatte Michael geschrieben und ihn gebeten, ebenfalls dorthin zu kommen. Es gab einiges, was er mit seinem Nachfolger persönlich besprechen wollte, doch vor allem hatte er einfach das Bedürfnis, seinen Bruder noch einmal zu sehen. Es würde eine überaus schmerzliche Begegnung sein, und er hatte ernsthaft überlegt, ob es nicht vernünftiger wäre, ihnen beiden diese herzzerreißende Szene zu ersparen, aber er wußte, daß Michael ihm das nie verzeihen würde.
Gab es noch eine Möglichkeit, sich mit Claudia zu versöhnen? Er hatte ihr einen Brief geschrieben, der ungeöffnet zurückgeschickt worden war, und obwohl er es noch einmal versuchen wollte, wagte er kaum auf einen plötzlichen Sinneswandel seiner Schwester zu hoffen.
Die nagenden Schmerzen steigerten sich von einer Se-kunde zur anderen zur wahren Höllenqual. Das Glas entglitt seinen Fingern, und er taumelte keuchend und würgend auf die Waschkommode zu, um sich in die Waschschüssel übergeben zu können. Bevor er sie erreichte, brach er jedoch zusammengekrümmt zu Boden, bei vollem Bewußtsein, aber völlig hilflos. Auch als die Krämpfe allmählich verebbten, hielt die lähmende Schwäche an, und er schloß verzweifelt die Augen. Es ist passiert! Die Waagschale der Krankheit hat sich endgültig gesenkt! Er konnte sich nicht mehr einreden, ein halbwegs gesunder Mann mit gelegentlichen Schmerzen zu sein. Unter Aufbietung aller Willenskraft würde es ihm vielleicht noch hin und wieder gelingen, den Schein zu wahren, doch bald würde auch das nicht mehr möglich sein...
Auf jeden Fall mußte er es schaffen, Rosalind heute nach Richmond zu begleiten, denn bei dieser ersten Begegnung mit der Familie ihrer Mutter würde sie seinen Beistand dringend benötigen. Mühsam kroch er auf allen vieren zum Sessel, zog sich an den Armlehnen hoch und sank erschöpft in die Polster.
Der Tod war so nahe gerückt, daß Stephen fast glaubte, ein Gespräch mit dem Sensenmann führen zu können. Und was kam danach? Himmlische Harfenklänge, Höllenfeuer oder einfach das Nichts? Dieses Geheimnis vermochte niemand zu lüften, denn die Toten konnten den Lebenden ihre Erfahrungen ja nicht mitteilen.
Als er am Vortag seinen Bankier in der City aufgesucht hatte, war die Kutsche am St. Bartholomew''s Hospital vorbeigefahren, einem riesigen Gebäudekomplex, dessen Grundmauern aus dem 12. Jahrhundert stammten. Dort mußten viele Patienten liegen, für die keinerlei Hoffnung mehr bestand, und Stephen hatte den dringenden Wunsch verspürt, hineinzugehen und einen Sterbenden auszufragen, in der Hoffnung, tröstliche Antworten zu erhalten. Doch er hatte darauf verzichtet, weil er vermutete, daß diese armen Teufel genauso im dunkeln tappten wie er selbst.
Stephen stemmte sich aus dem Sessel hoch. Es würde ihn eine gewaltige Anstrengung kosten, ins Schlafzimmer zurückzukehren, aber ihn lockte die Vorstellung, in Rosalinds Armen zu liegen.
Rosalind hielt es für ein gutes Omen, daß der Tag sonnig war. Während der Kutschfahrt nach Richmond - einer an der Themse gelegenen Ortschaft westlich von London -hielt sie Stephens Hand. Sie wußte, daß er nachts aufgestanden war, denn sie war aufgewacht, als er vor Kälte zitternd ins Bett zurückkam, und sie hatte sich wortlos an ihn geschmiegt und mit ihrem Körper gewärmt.
Er sah auch jetzt noch sehr schlecht aus, und ihr war klar,
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