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Karlebachs Vermaechtnis

Karlebachs Vermaechtnis

Titel: Karlebachs Vermaechtnis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe von Seltmann
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Prolog
     
    An einem warmen Januarmorgen, am Vortag des Schabbat, saß ich im Garten eines Jerusalemer Cafés und wartete auf Schlomo Karlebach. Ich hatte mir einen sonnigen Platz ausgesucht, einen frisch gepressten Orangensaft bestellt und schaute in den tiefblauen Himmel. Der Duft von gelben, roten und weißen Blüten umwehte meine Nase. Ich atmete tief ein und genoss das Leben. Am Nebentisch saßen zwei ältere Herren, ein Amerikaner und ein Wiener, die - wie ich ihrem Gespräch entnehmen konnte - gemeinsam die Schule besucht hatten. Sie waren eben erst in Israel eingetroffen und freuten sich über das Wiedersehen. Je länger sie sich unterhielten, Jugenderinnerungen und seltene Schallplatten austauschten, desto mehr fiel der Amerikaner in seinen Wiener Dialekt zurück. Ich lauschte ein wenig ihrer Unterhaltung, beobachtete zwei Spatzen, die sich um den Rest eines Kekses stritten, und ließ mir von der schwarzhaarigen Kellnerin noch einen Saft servieren. Lea - so hieß die Kellnerin - war ebenso gut aussehend wie hochnäsig. Sie trug hautenge Jeans, einen noch engeren Pullover, und ich fragte mich, womit sie wohl ihre üppige Oberweite bändigte. »Toda raba«, bedankte ich mich auf Hebräisch. Zu meiner Überraschung lächelte sie und antwortete auf Deutsch: »Bitte, gerne.«
    Ich hatte beschlossen schönen Frauen keine Beachtung mehr zu schenken und sagte nichts weiter. Deborah und Simona kamen mir in den Sinn, und meine Stimmung trübte sich.
    Vor meinem Abflug nach Israel hatten sich die Ereignisse überschlagen. Mein Leben, das über Jahre hinweg in einer eher schläfrigen, ereignislosen Langeweile verlaufen war, hatte sich über Nacht in einer dramatischen, von mir nie für möglich gehaltenen Weise verändert.
     
    1
     
    Es begann an einem jener typischen Sonntagmorgen im November. Ich lag im Bett und dachte nach. Einen vernünftigen Grund aufzustehen gab es eigentlich nicht. Wie üblich, wenn ich ein Wochenende in meinem Heimatdorf Merklinghausen verbrachte, hatte ich den Samstagabend bei meinem Kumpel Andi ausklingen lassen. Seine Frau mochte mich nicht, und so trafen wir uns meist erst gegen Mitternacht, wenn sie schon schlief. Da es bei unseren Gesprächen über Gott und die Welt und die Fußballergebnisse bisweilen recht lautstark zuging, hatten wir uns ein gemütliches Eckchen im Vorratskeller eingerichtet. Das hatte den Vorteil, dass wir zu dem einen oder anderen Bier, das wir zu trinken pflegten, die Reste vom Samstagseintopf oder bereits ein Stück vom Sonntagskuchen zu uns nehmen konnten. Meist endete unser Erfahrungsaustausch erst in den frühen Morgenstunden. So auch an jenem Wochenende im November.
    Ich hatte wohl vergessen, das Fenster meines Zimmers zu schließen, denn als ich am Sonntagmorgen aus einem Alptraum erwachte, in dem ich im fernen Sibirien von einem unaufhörlich schießenden Trupp Soldaten verfolgt wurde, hatte sich eine feuchte Nebeldecke über meinem Bett ausgebreitet. Ich fror und in meinem Magen rumorte ein Brei aus Bier, Käsekuchen und Kartoffelchips. Außerdem dröhnte mein Schädel.
    Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich aufstehen und das Fenster schließen oder liegen bleiben und weiterfrieren wollte. Während ich noch hin und her überlegte und mir die Bettdecke über den Kopf zog, begannen die Glocken unserer Dorfkirche zu läuten.
    »Verdammt!«, fluchte ich und sprang so schnell es Magen und Schädel erlaubten aus dem Bett. Ich hatte Opa Bernhard, der mich gestern nach der Sportschau zum Abendessen eingeladen hatte, versprochen, ihn zum Gottesdienst zu fahren.
    Opa Bernhard war nicht mein Großvater, aber er wurde im ganzen Dorf so genannt. Er war fast neunzig und mein bester Freund. Ich werde nie den Tag vergessen, an dem ich ihm das erste Mal begegnet bin. Ich war damals sechs Jahre alt. Meine Eltern waren wie jeden Samstagvormittag mit meinem kleinen Bruder zum Einkaufen gefahren. Ich nutzte die günstige Gelegenheit und kletterte auf unseren Apfelbaum, was mir mein Vater strengstens untersagt hatte. Nie zuvor war ich so hoch gestiegen wie an jenem Sommertag. Mir tat sich eine neue Welt auf. Ich fühlte mich wie ein König. Rosen und Tulpen, Himbeerstrauch und Ginsterbusch verneigten sich vor mir. Sogar die in Reih und Glied aufgestellten Bohnenstangen, zu denen ich stets ehrfurchtsvoll emporblickte, waren mir Untertan. Ich konnte gar über die Hecke hinweg in ein neues, fremdes Reich schauen. Eine Zeit lang studierte ich den Körperbau unserer Nachbarin, die

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