Fallkraut
etwas, aber was, kann ich nicht verstehen.
Ich rolle, ich schlittere hinab. Der Plastikmantel hängt mir in Fetzen vom Leib. Meine Hände bluten. Ich sehe den Weg nicht mehr, so viel Wasser ist in meinen Augen. Der Regen sticht, peitscht. Ich bin schon fast bei meiner Schwester.
Dann habe ich sie am Arm. Ich packe Sigrid und lasse sie nicht mehr los. Ich bin froh, so unglaublich glücklich und wütend zugleich. Ich will Sigrid um den Hals fallen und sie küssen, überall küssen, aber ich will auch schlagen. Ich ziehe Sigrid an mich und schlage ihr ins Gesicht.
»Was bist du nur für eine elende Egoistin«, schreie ich. »Du siehst doch, dass ein Unwetter im Anzug ist? Warum läufst du weg?«
Ich schlage wild drauflos. Viel kräftiger als gestern Nachmittag im Hotelzimmer. Und Sigrid wehrt sich nicht. Tut nichts, um sich gegen die Schläge zu schützen. »Wie kannst du so dumm sein?«, schreie ich. »Warum denkst du immer nur an dich?!«
Ich keuche, mir wird plötzlich übel, ich lasse los, spucke auf die Erde. Sigrid wankt. Ich hebe das Bein zu Âeinem Tritt, und in diesem Augenblick spüre ich, wie sich der Boden unter meinen FüÃen bewegt. Ich höre Steine rollen, das Geräusch von Schutt in meinen Ohren. Ich höre Sigrid rufen und meine eigene Stimme dazwischen. Und dann fühle ich, wie mir der Boden unter den FüÃen weggleitet.
Aus der Bayerischen Rundschau ,
Mittenwald, 13. August
Von einem unserer Korrespondenten.
eine 63-jährige niederländische Frau ist vorgestern an der Flanke der Westlichen Karwendelspitze ums Leben gekommen. Nach einer zweiten Frau wird noch gesucht. Es ist das dritte Todesopfer dieses Jahr im Karwendelmassiv. Ende Mai fanden zwei Bergsteiger aus München in der Nähe des Predigtstuhls den Tod.
Das 63-jährige Opfer wurde am Dienstag wahrscheinlich vom plötzlich aufkommenden Nebel und dem schlechten Wetter überrascht. Die Frau ist vermutlich vom Weg nach Mittenwald abgekommen und hat dabei einen verhängnisvollen Fehltritt gemacht.
Bergretter des Deutschen Alpenvereins fanden die Frau am Fuà eines Schotterhangs, ungefähr eine halbe Stunde von der Hütte entfernt. Der Körper wies Brüche an einem Arm und beiden Beinen auf. AuÃerdem hatte das Opfer Verletzungen an Nacken und Hals.
Den Bergrettern zufolge sind diese Verletzungen nicht durch den Sturz verursacht: Es könnte sich eher um Bisswunden handeln, zugefügt von einem Tier. Die Niederländerin hielt sich zusammen mit ihrer Schwester im Hotel »Alpenrose« in Mittenwald auf. Von der Schwester fehlt noch jede Spur. Rettungskräfte haben heute Nacht mit Hubschraubern, Hunden und Wärmebildkameras gesucht. Die Suche wurde jedoch von für die Jahreszeit ungewöhnlichen Regenfällen und Böen bis Windstärke 12 auf den Karwendelgipfeln erschwert.
Weitere Kostenlose Bücher