Falsche Zungen
es angenehm still, nur eine alte Frau saß strickend auf der Nachbarbank und bewachte den Inhalt eines Kinderwagens; ich konnte ungestört arbeiten.
Plötzlich war es mit der Ruhe vorbei. Eine Frau tauchte mit einem Knaben auf, den man schon aus der Ferne brüllen hörte: »Gib mir meine Wasserpistole wieder!« Ich blickte auf. Es war zwar eine schöne junge Mutter, die sich da mit ihrem aufsässigen Sohn abplagte, aber wahrscheinlich hatte es wenig Sinn, hier sitzenzubleiben. Ich kenne solche Situationen: Kinder im Vorschulalter sind Nervensägen und machen ein konzentriertes Arbeiten fast unmöglich.
Gerade wollte ich aufstehen, als der Junge anfing zu singen. Aber im Gegensatz zu anderen Müttern, die sich bei
Gesangsdarbietungen ihrer Kids mit stolzem Lächeln nach Publikum umschauen, zischte sie aufgebracht: »Du weißt genau, daß ich dieses Lied nie wieder hören will!«
Nun war ich neugierig geworden. Sang ein Fünfjähriger bereits unanständige Lieder? Oder war die Mutter eine besonders prüde oder humorlose Frau? Ich schaltete mich ein und gab mich als Student der Sozialpädagogik zu erkennen und somit als Profi in der Kindererziehung aus.
Obwohl sie sicherlich ein paar Jahre älter war als ich und im Gegensatz zu mir praktische Erfahrungen im Umgang mit einem Kind hatte, fiel sie sofort darauf herein. »Es ist mir so peinlich!« sagte sie. »Aber Nicos neunzigjähriger Urgroßvater wohnt bei uns im Haus; er macht sich einen Spaß daraus, dem Kind völlig abwegige Gedichte und Lieder beizubringen. Leider ist mein Mann ganz anderer Meinung und findet, ich würde das viel zu ernst nehmen.«
Nico spitzte aufmerksam die Ohren. »Willst du das Lied hören?« fragte er mich wie einen Schiedsrichter.
Seine Mutter schüttelte den Kopf, ich nickte.
Der Kleine baute sich vor mir auf und begann:
Wer will unter die Soldaten, der muß haben ein Gewehr, der muß haben ein Gewehr, das muß er mit Pulver laden und mit einer Kugel schwer ...
Sozusagen von Berufs wegen war ich fasziniert, während Nicos Mutter wie ein Teenager errötete. Ich ließ mir den Text noch einmal aufsagen und notierte alles in meinem Laptop.
Die zweite Strophe war ebenso martialisch wie die erste:
Der muß an der linken Seite ein scharfen Säbel han, daß er, wenn die Feinde streiten, schießen und auch fechten kann .
Mit erstaunten Kulleraugen verfolgte die blonde Frau, wie der anstößige Text auf dem Display erschien und abgespeichert wurde. Vielleicht hielt sie mich in ihrem ersten Schrecken trotz meiner langen Haare für einen Rechtsradikalen und begann sich vor mir zu fürchten. Leicht amüsiert erklärte ich, daß dieses Lied eine gute Ergänzung zu meinem ganz und gar pazifistischen Aufsatz sei, der sich mit den Auswüchsen des Militarismus in der Kinderstube des 19. Jahrhunderts befasse. Es war bemerkenswert, wie rasch ihr Mißtrauen in Bewunderung überging.
Gegen Mittag folgte ich ihr nach Hause, weil sie für den hungrigen Sohn und den zahnlosen Großvater Spaghetti kochen wollte. Ich hätte zwar lieber wie bei meiner eigenen Mutter getafelt, denn Nudeln konnte ich auch selber zubereiten. Aber es schmeckte nicht schlecht, Nico bekam zum Abschluß meinen letzten Himbeerbonbon und ich ein Küßchen.
Es war fast selbstverständlich, daß wir uns am nächsten Tag auf dem Spielplatz wiedertrafen.
Unser Verhältnis dauerte den ganzen Sommer lang. Claudias Mann hatte beruflich in Kanada zu tun und wurde glücklicherweise erst im September zurückerwartet. Gegen elf Uhr nachts, wenn Nico und der Opa schliefen, war meine Stunde gekommen; bevor es hell wurde, schlich ich wieder davon. Es war eine schöne Zeit.
Im Herbst wurde es mir auf dem Spielplatz zu kühl, außerdem besuchte Nico jetzt wieder den Kindergarten. Da der Ehemann und Vater zurückgekehrt war, mußte unsere Affäre abrupt beendet werden. Ich weiß nicht genau, wie es Claudia erging, aber ich litt wie ein ausgesetzter Hund. Es war kein großer Trost, daß meine Arbeit über die militante Kinderstube mit einer sehr guten Note bewertet wurde.
Kurz vor Weihnachten teilten mir meine Eltern schriftlich mit, daß sie in diesem Jahr das Fest im Kreise gleichgesinnter Rentner auf Mallorca feiern wollten. Mit anderen Worten: Sie hielten mich nicht mehr für ihren kleinen Tommy, der an den Weihnachtsmann glaubt. Ich konnte sehen, wo ich blieb. Zwar gab es verschiedene halbherzige Versuche, gemeinsam mit Freunden etwas zu unternehmen, aber schließlich blieb ich doch zu
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