Falsche Zungen
nach Hause gebracht. Inzwischen war auch ein Plan in ihr herangereift.
Im nächsten Jahr war Sascha zwar älter, aber noch aufdringlicher geworden, machte einer 15jährigen Nervensäge namens Mandy den Hof und schickte Pilar zum Zigarettenholen ins Dorf. Selbst die Gräfin betrachtete ihren Favoriten mit leichter Ernüchterung. Diesmal war es kein Zufall, daß zwei goldene Löffel verschwanden. Pilar bemerkte mit Genugtuung, wie die Gräfin auf einem Notizblock die Namen ihrer senilen und infantilen Verwandten auflistete und mit Haken oder Fragezeichen versah.
Ihr rotnasiger Schwager Benno war der zweite, den sie im Visier hatte; schon vor Jahren war er durch betrügerischen Bankrott unangenehm aufgefallen, danach durch permanentes und zudringliches Schnorren. Jetzt, wo er gänzlich unbrauchbar und läppisch geworden war, grapschte er nach halbwüchsigen Nichten. Die Gräfin beschloß, ein für allemal mit Benno zu brechen. Allerdings hatte das zur Folge, daß ihre Schwester Traudel, beleidigt über diesen Ausschluß, nun auch nicht mehr kommen mochte.
Es war schon eine gewisse Erleichterung für Pilar, drei Personen weniger bedienen zu müssen. Trotzdem waren es noch zu viele, wie sie fand, und ein Grund zum beherzten Handeln lag vor.
Zwar mußte sich die Gräfin beim Fehlen von vier weiteren Löffeln eingestehen, daß sie die Falschen verdächtigt hatte, aber da sie den wahren Grund für die abgebrochenen Beziehungen nie ausgesprochen hatte, konnte sie nichts zurücknehmen. Sie kam nicht umhin, auch Sascha zu verstoßen, obgleich es ihr selbst sehr weh tat. Da sich der Junge aber stets im Glanz ihrer Zuneigung gesonnt hatte, forderte er eine Begründung für den Bannfluch. »Du stiehlst seit Jahren meine goldenen Löffel!« bekam er, außer einigen ihm unverständlichen Ausdrücken wie defraudant und cochonnerie, zu hören. Sascha beteuerte vergeblich seine Unschuld. Auch seine bisher erfolgreichen Schmeicheleien stießen auf taube Ohren, die »beste aller Großtanten« änderte ihr Testament und enterbte ihn.
Pilar überlegte, wieviel man ihr in Barcelona für die Löffel auszahlen und ob die Summe für ein gebrauchtes Auto reichen würde. Die Gräfin hatte sich mit ihrer gesamten Verwandtschaft heillos überworfen und kam fortan nur noch im Sommer nach Mallorca. Sie hatte immer noch genug Goldlöffel, um in diesen vierzehn Tagen jeden Mittag mit einem anderen ihren Zitronensaft umzurühren.
Eines Tages, als Pilar die Einfahrt des Nachbarhauses kehrte, wurde sie von Esteban herbeigewinkt. »Gestern mußte ich sie nach Palma fahren«, erzählte er mit schadenfrohem Grinsen, »und zwar zu einem Antiquitätenhändler, der auf Edelmetalle spezialisiert ist. Um zu wissen, was sie - auf Heller und Pfennig genau - durch den Diebstahl verloren hat, wollte sie ihre Löffel schätzen lassen. Ich stand selbst daneben, als der Fachmann die Lupe nahm, wog und kratzte. Du wirst es kaum glauben, Pilar, die Löffel sind nur mit einer dünnen Goldschicht überzogen und nicht viel wert.« Pilar fühlte sich betrogen.
Doch als kurz vor dem geplanten Klassentreffen eine forcierte Schönheitspflege auf dem Programm stand, wußte Pilar plötzlich, was zu tun war.
Eine glibberig-glasige Qualle wurde mit einem Rest Bodylotion in der Küchenmaschine zu einer perfekten Emulsion verarbeitet. Mit goldenem Löffel füllte Pilar das teuflische Elixier in ein kostbares blaues Glasfläschchen, aus dem sie die allergengetestete Schönheitsmilch entfernt hatte; am Abend vor dem Eintreffen ihrer Freundinnen würde die Gräfin zweifellos ihre überempfindliche Haut mit einer großzügigen Dosis Quallenmixtur verwöhnen. Es war damit zu rechnen, daß sie ihren Gästen nur verschleiert entgegentreten konnte, falls es nicht weitaus schlimmer kam.
Der Schneeball
Es war Sommer, als ich Claudia kennenlernte. Meine Wohnung war eng, dunkel und hatte keinen Balkon. Es bot sich geradezu an, bei schönem Wetter mit einem Tütchen Himbeerbonbons in der Tasche und dem Laptop unterm Arm das stickige Haus zu verlassen. Gleich um die Ecke gab es einen Kinderspielplatz, wo es meistens erst am Nachmittag laut und betriebsam zuging.
An jenem warmen Julimorgen saß ich auf einer Bank und schrieb an meiner überfälligen Semesterarbeit: »Die militante Kinderstube«. Es ging um Kriegsspielzeug, mit dem seit Ewigkeiten die kleinen Buben auf ihre angebliche Bestimmung vorbereitet werden, so wie man die Mädchen mit Puppenküchen ködert. Auf dem Spielplatz war
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