Farben der Herzen
“Ich bereue diese Entscheidung bis zum heutigen Tag.”
Colette versuchte, sich Christian als verletzlichen kleinen Jungen vorzustellen, der ohne Mutter aufwachsen musste. Doch es gelang ihr nicht. Er wirkte zu beherrscht, zu souverän, zu unnahbar. Vielleicht lag in seiner Kindheit die Erklärung für seine Wirkung nach außen und für die Unnachgiebigkeit, mit der er der Welt begegnete.
In all den Jahren hatte er nur drei Mal eine andere Facette seines Wesens enthüllt – am Tag von Dereks Beerdigung, in der Nacht der Weihnachtsfeier und vor Kurzem, als sie gemeinsam essen gegangen waren.
“Hat sein Vater jemals wieder geheiratet?”, fragte sie. Sie wollte mehr über Christians Kindheit und Jugend erfahren.
“Leider nein. Als er dem Alkohol abgeschworen hatte, vergrub Elliott sich in seine Arbeit. Er tauschte sozusagen eine Sucht gegen die andere aus, obschon die Arbeit eine weit weniger zerstörerische Kraft besaß. Christian wurde von einer Reihe unterschiedlicher Haushälterinnen erzogen. Ich holte ihn jeden Sommer und über Weihnachten zu uns. Aber wie Sie sich vorstellen können, wussten weder Charles noch ich, wie man einen Jungen unterhielt.”
Colette lächelte und stellte sich Christian vor, der an einem großen Tisch im Speisesaal saß und ein förmliches Abendessen über sich ergehen ließ.
“Ich habe ihm beigebracht, wie man Bridge spielt, und ich muss zugeben, dass er sehr gut ist.”
Colette hatte auch nicht gewusst, dass er Karten spielte.
“Unglücklicherweise ist sein Verhältnis zu Elliott äußerst angespannt. Mein Neffe hat vor langer Zeit entschieden, dass Christian seine Investmentfirma übernehmen sollte. Doch der hatte nie Interesse an Aktien und Anleihen. Seit er ein Kind war, liebte er es zu reisen. Christian verbrachte Stunden in der Bibliothek, studierte Karten und las Bücher über ferne Länder. Seine Importfirma baute er mit einer Erbschaft auf, die er von der Familie mütterlicherseits bekam.”
“Er ist sehr erfolgreich”, sagte Colette und fragte sich einmal mehr, warum er durch die illegalen Aktionen alles aufs Spiel setzte.
“Aber was zwischenmenschliche Beziehungen angeht, versagt er vollkommen – so wie sein Vater. Elliott gab der ganzen Welt die Schuld an seinem schmerzlichen Verlust. Und statt sein Leben weiterzuleben, fraß er seine Bitterkeit in sich hinein. Ich fürchte, Christian ist seinem Vater ähnlicher als er denkt. Auch er macht vieles mit sich selbst aus. Er weigert sich, andere Menschen zu nah an sich heranzulassen.” Traurig schüttelte Elizabeth den Kopf.
“Er … er scheint mit vielen Frauen befreundet zu sein.”
“Alles nur Flausen”, entgegnete Elizabeth voller Verachtung. “Diese Beziehungen halten nie lange, oder? Er umwirbt sie, und dann verliert er das Interesse an ihnen. Habe ich recht?”
Colette hatte das Gefühl, aus dem Nähkästchen zu plaudern. “Äh … das war seine Masche, als ich noch für ihn arbeitete. Aber seit einigen Monaten bin ich nicht mehr bei
Dempsey Imports
, und deshalb kann ich über seine letzten … Beziehungen nichts sagen.”
Die alte Dame setzte ihre Teetasse ab und musterte Colette. “Sie lieben ihn, nicht wahr?”
Colette spürte, wie sie rot wurde. “So würde ich das nicht sagen …”
Elizabeth winkte elegant ab. “Geben Sie sich nicht die Mühe, es abzustreiten. Sonst wären Sie nicht hierher gekommen. Stehen Sie auf”, forderte sie. “Ich möchte Sie ansehen.”
Zögerlich kam Colette der Bitte nach – und dankte Gott, dass sie weite Kleider angezogen hatte.
“Straffen Sie die Schultern”, sagte Elizabeth knapp. “Was ist nur das Problem mit euch jungen Leute heutzutage? Es ist ein Wunder, dass ihr nicht alle Rückenschäden habt.”
Colette konnte sich ein Lächeln gerade noch verkneifen.
“Ich mag Sie”, verkündete Elizabeth unvermittelt.
Diesmal lächelte Colette tatsächlich. “Ich mag Sie auch. Darf ich mich setzen?”
“Nur zu.” Elizabeth nickte. “Ich kann nur sagen, dass es wirklich höchste Zeit ist, dass mein Großneffe endlich sesshaft wird. Denn allmählich fing ich schon an, mich zu fragen, ob er den Verstand einer Gans besitzt.”
Colette musste über Elizabeth’ angewiderten Tonfall lachen.
“Können Sie zum Abendessen bleiben?”
“Das ist nicht nötig. Ich …”
Elizabeth brachte sie mit einer knappen Geste zum Schweigen. Bevor Colette sie davon abhalten konnte, hatte sie nach Doris gerufen und ihr aufgetragen, den Abendbrottisch für
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