Das Schwert und die Lämmer: Roman (German Edition)
Kapitel 1
Wir stiegen den Berg empor an diesem Morgen, schweigend und müde, so wie immer. Gertrud ging vor, wir anderen folgten ihr in einer Reihe, denn der Pfad war zu schmal, um nebeneinander herzugehen. Gestrüpp und Bäume rahmten ihn auf beiden Seiten ein, und gelegentlich wand er sich an einem moosbedeckten Felsen vorbei.
»Wann gehst du?«, fragte Gertrud. Sie musste sich nicht umdrehen, ich wusste auch so, dass sie mit mir sprach.
»Morgen.«
»Aha.«
Mehr sagte Gertrud nicht. Die sechs Frauen, die hinter mir den Berg hinaufstiegen, atmeten und schnauften leiser als zuvor. Zweige knackten unter ihren Füßen.
Es war ein kalter, grauer Frühlingsmorgen. Nebel stieg in dünnen Schwaden zwischen den Bäumen empor. Über dem Rhein musste bereits die Sonne aufgehen, doch auf unserer Seite des Bergs war ihre Wärme noch nicht zu spüren.
»Und die Herrin weiß davon?« Gertrud klang verärgert, fast schon verletzt. Sie war die älteste Magd auf der Burg. Ihre Kinder waren erwachsen, und die erste Enkeltochter würde zum Pfingstfest heiraten. Sie hatte sich daran gewöhnt, dass jeder tat, was sie sagte, und unterließ, wovon sie abriet. Hinter ihrem Rücken nannten sie alle Mutter Oberin.
»Sie hat es mir selbst erlaubt«, sagte ich.
»Ich war dabei.« Agnes sprach zu laut, wie so oft, wenn sie aufgeregt war. Als Einzige in unserer Gruppe aus acht Mägden – normalerweise neun, aber Gerhild hatte wenige Tage zuvor einen Sohn geboren und war vom Frondienst befreit – hing kein Gebende in ihrem Gürtel. Sie war noch unverheiratet und durfte ihr Haar für alle sichtbar offen tragen. Ich beneidete sie um diese Freiheit, doch das hätte ich ihr nie gesagt, so wie sie mir nie gestanden hätte, dass ihr Gertrud Angst einjagte. Man muss nicht alles aussprechen.
Ich hob den Kopf und sah an Gertrud vorbei den Berg hinauf. Die Mauern von Burg Drachenfels schimmerten zwischen den kahlen Bäumen hindurch. Sie waren kaum näher gekommen, obwohl wir bereits die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Seit Heinrichs Tod erschien mir der Weg länger als davor.
»Ich weiß wirklich nicht, was du da willst«, sagte Gertrud nach einem Moment. Ihr Atem ging schwer. Ich fragte mich, was ihr mehr zu schaffen machte, der Aufstieg oder ihr Ärger. »Ich habe Winetre mein ganzes Leben lang nicht verlassen«, fuhr sie fort. »Und meine Eltern und Kinder auch nicht. Onkel Humbert, ja, der meinte auch, er wäre zu Besserem berufen.«
Sie blieb abrupt stehen und drehte sich um. Der graue Wollschal, den sie um Kopf und Schultern geschlungen hatte, rahmte ihr Gesicht ein. Ihre Nase stach daraus hervor wie der Schnabel eines Falken.
»Nach Bonn wollte er.« Sie schüttelte den Kopf. »Bonn …«, sagte sie dann leiser. »Er sprach von nichts anderem, als ob er dort das Paradies finden würde.«
Einen Moment lang verlor sich ihr Blick in der Vergangenheit. Sie sprach oft von »Onkel« Humbert, dabei wusste jeder im Dorf, dass er nicht ihr Onkel gewesen war. Nur was er genau für sie gewesen war, wusste niemand.
Mit einem Blinzeln kehrte sie in die Gegenwart zurück. Der Blick ihrer blauen Augen richtete sich auf mich, und sie hob den Zeigefinger. »Nie wieder haben wir von ihm gehört. Bestimmt haben ihm Wegelagerer die Kehle durchgeschnitten und ihn in unheiligem Boden verscharrt.« Sie bekreuzigte sich. »Und du willst sogar nach Köln. Bei allen Heiligen.«
»Es ist doch nur eine Pilgerfahrt, Gertrud«, mischte sich Klara ein. Sie war so alt wie ich, hatte aber schon sechs Kinder geboren. »Mach ihr keine Angst.«
Ich nickte. »Vater Ignatius wird die ganze Zeit über bei uns sein. Wir sind fast ein Dutzend Pilger. Sogar ein Ritter ist dabei.«
Gertrud strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Auch eine andere Magd?«, fragte sie.
»Nein.«
»Aha.« Gertrud musterte mich einen Moment lang. Schamesröte stieg mir ins Gesicht. Gertrud bemerkte das anscheinend, denn ihre Mundwinkel zuckten kurz, als wolle sie lächeln, dann drehte sie sich wieder um und stieg den Berg weiter empor.
Ich folgte ihr nur, weil es keinen anderen Weg gab.
Morgennebel umgab die Burg, als wir sie erreichten. Im Schatten einiger Bäume blieb ich stehen und zog das Gebende über. Die Haube war aus einfachem Leinen und kratzte, wenn man unter ihr schwitzte. Ich zog sie so fest unter dem Kinn zusammen, dass ich den Mund kaum noch öffnen konnte. Ich wollte Gertrud nicht noch mehr reizen.
Bis auf Agnes legten auch die anderen Frauen ihr Gebende an.
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