Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Felidae

Felidae

Titel: Felidae Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Akif Pirincci
Vom Netzwerk:
da ß man sie bei ihrer lustigen Zeremonie beobachtet.«
    »Das sieht diesen Idioten ähnlich!«
    Sie ging langsam zum Fenster und schaute auf die Gärten hinab.
    »Ist es draußen schon hell geworden?«
    »Aber siehst du das denn ... «
    Ich brach ab. Jetzt endlich war das traurige Geheimnis ihrer Augen gelüftet. Ich ging zu ihr und blickte betreten auf meine Pfoten.
    »Du bist blind«, sagte ich.
    »Ich bin nicht blind, ich kann nur nicht sehen!«
    Sie wandte sich vom Fenster ab und kehrte zum Kamin zurück. Ich begleitete sie dorthin. Mit stumpfem Blick betrachtete sie die allmählich erlöschende Glut. Obwohl ich die Antwort bereits kannte, stellte ich ihr die Frage trotzdem.
    »Bist du immer hier drin oder gehst du auch mal nach draußen?«
    »Nein. Da draußen gibt es zu viele Unannehmlichkeiten mit den lieben Brüdern und Schwestern. Sie sind immer auf Kampf aus. Alle Welt ist auf Kampf aus. Doch es ist bis heute noch kein einziger Tag vergangen, an dem ich mir nicht gewünscht hätte, diese böse Welt einmal zu sehen.«
    Es brach mir das Herz. Ein Leben in Finsternis, ein Leben zwischen Wänden, in einer Höhle, in einem Labyrinth - einem zyklopischen Labyrinth, das keinen Ausweg besaß. Ein Leben, in dem immerzu geahnt, getastet, gehört, gerochen, aber niemals gesehen wurde. Sie sah nie den Himmel, nie den Schnee, nie ihre Augen im Glanz des Wassers. Ob die Sonne schien, ob die Blumen blühten, ob die Kraniche gen Süden zogen, alles war einerlei, alles war schwarz, schwärzer als Schwarz. Verflucht noch mal, weshalb musste sie auch so wunderschön sein! Das machte dieses zum Himmel schreiende Unrecht nur noch sinnloser. Es gab keinen Gott! Und wenn es einen gab, dann musste er ein kalt lächelnder Sadist sein!
    »Tut mir leid«, sagte ich. Es war eine schäbige und überflüssige Bemerkung, aber ich konnte für meine Trauer keine feingesponnenen Worte finden. Es war die Wahrheit: Sie tat mir so unendlich leid.
    »Warum?« entgegnete sie. »Es gibt Schlimmeres im Leben. So sagt man doch, nicht wahr? Es gibt immer etwas Schlimmeres im Leben.«
    »Das ist wohl wahr. Doch wo ist die Grenze?«
    "Vielleicht gibt es sie gar nicht. Man erträgt allerhand, wenn man nicht gerade in einem Hundefriseursalon wohnen mu ß .«
    Wir brachen beide gleichzeitig in schallendes Gelächter aus. Sie ertrug es mit Humor. Das gefiel mir.
    »Warst du schon immer so, ich meine, so ... «
    »So blind?« half sie mir schmunzelnd aus der Klemme. »Ja, von Geburt an ... Aber es ist seltsam. Da sind auch Bilder, Bilder in meinem Kopf.«
    »Bilder?«
    »Ja, ich habe natürlich nur eine vage Vorstellung davon, was Bilder sind. Doch trotzdem tauchen sie in meiner Erinnerung auf. Und in meinen Träumen. Immer wieder.«
    »Was sind das für Bilder?«
    Ihr Gesicht nahm jetzt einen merkwürdig entrückten Ausdruck an. Doch gleichzeitig schien sie sich mit aller Kraft auf das, was sie vor ihrem geistigen Auge sah oder zu sehen glaubte, zu konzentrieren. Man konnte ihr die schwere Arbeit, die ihr das Vorstellen von optischen Dingen bereitete, förmlich ansehen.
    »Es ist alles so verschwommen und unscharf. Ich sehe Menschen, viele Menschen um mich versammelt. Sie sind so groß und so, so klar, so hell. Tragen sie die sagenhafte Farbe Weiß, von der man mir oft erzählt hat? Ich weiß es nicht. Sie sprechen durcheinander und lachen laut. Ich habe eine Heidenangst, ich will zu meiner Mutter zurück! Einer der Menschen beugt sich über mich herab und lächelt mich an. Aber es ist ein falsches Lächeln, das Lächeln eines Lügners. Dieser Mann hat stechende Augen. Sie funkeln außergewöhnlich, als wollten sie mich wie Dolche durchbohren. Plötzlich hat der Mann etwas Glänzendes in seiner Hand und vollführt damit eine blitzartige Bewegung. Ich spüre Schmerz. Und ich schlafe ein. Doch dieser Schlaf ist ein beängstigend tiefer, bleierner, schwarzer Schlaf, aus dem ich nicht mehr aufwache. In der Schwärze des Schlafes höre ich die Stimmen der Menschen. Sie sind jetzt wütend, sie schreien sich an, beschuldigen sich gegenseitig. Irgendetwas ist schiefgegangen. Ich schlafe weiter. Es kommt mir so vor, als wären es tausend Jahre, die ich in diesem Zustand verbringe. Dann passiert etwas Furchtbares. Es ist so furchtbar, da ß es mein Gedächtnis für immer auslöscht. Aber nein, da ist noch eine Erinnerung. Auf einmal laufe ich mit den anderen zusammen hinaus. Ja, da sind noch andere, viele, Hunderte. Doch ich kann nicht mehr sehen, ich bin blind.

Weitere Kostenlose Bücher