Felidae 4 - Das Duell
Wahrheit zu sagen, ich dachte nur noch daran, wie es mir gelang, meine eigene Haut zu retten, und suchte unbewußt nach dem Ausgang.
Mit der Unheimlichkeit einer Geistererscheinung tauchte er plötzlich vor mir auf: der Ausgang! Es hatte jedenfalls den Anschein. Ich war in diesem Labyrinth schon so lange in die Irre gelaufen, daß ich mir dessen Lageplan als ein doppelt belichtetes Schnittmuster vorstellte. Vor mir stand ein einen Spalt breit offenstehendes Tor. Selbstverständlich wußte ich, daß es sich dabei nicht um dasselbe Tor handelte, durch das ich hineingekommen war. Dieses hier erweckte eher den Eindruck eines überdimensionierten Schottes, an den Kanten waren wuchtige Gummidichtungen angebracht. Gleichwohl witterte ich den Duft der Freiheit.
Durch den Spalt ergoß sich bläuliches Licht in die Finsternis. Ja, ich glaubte sogar, in gemächlichen Wogen herabschwebenden Dunst zu erkennen. Ich faßte mir ein Herz, bewegte mich auf die Öffnung zu, steckte zaghaft den Kopf hinein und verschwand schließlich zur Gänze darin.
Was ich auf der anderen Seite zu sehen bekam, ließ mich, passend zu dem allgegenwärtigen Frost, augenblicklich erstarren. Ich war nicht in der ersehnten Freiheit gelandet – allerdings auch nicht wie befürchtet mitten in der Hölle. Im Gegenteil, ich sah mich einer berauschenden Schönheit gegenüber. Das Zentrum des Gebäudes entpuppte sich als eine kleine Halle, an deren Mauern auf halber Höhe Laufbrücken mit Gitterböden entlangführten. Portalkräne mit herunterbaumelnden Ketten und schwere Maschinen ließen auf eine heruntergekommene Industrieanlage schließen, wie sie draußen zu Dutzenden vorzufinden war. Durch die großen Atelierfenster im Dach fiel das trübe Licht des Winternachmittags und füllte den Raum mit einem blauen Schimmer. Jetzt wußte ich auch, daß sich hier die Quelle der beißenden Kälte verbarg, genau vor meiner Nase. Ich war in eine Bildhauerwerkstatt geraten, aber von einer ganz speziellen Art.
Eine unschätzbare Zahl von riesenhaften Eisskulpturen, einige unter ihnen über fünf Meter hoch, ragte vor mir auf wie das Museumsdepot der Eiskönigin. Die Schöpfer dieser Exponate waren geniale Künstler, sie standen ihren beständigeren Materialien zugeneigten Kollegen an Inspiration, Können und Detailversessenheit in nichts nach. Engel- und Feenwesen mit riesenhaften Flügeln, sich aufbäumende Pferde und zum Sprung ansetzende Leoparden. Gestalten aus der griechischen Mythologie wie Zentauren und dreiköpfige Höllenhunde, luxuriöse Automobile, majestätische Landschaften, Häupter von Prominenten – alle diese aus Mammuteisblöcken gehauenen Gestalten zogen vor meinem erstaunten Auge vorbei wie die bizarre Flora und Fauna eines Eisplaneten. Einige wenige phantasielose Stücke, eine in Eis gemeißelte Jahreszahl oder Bilanzkurve, ließen darauf schließen, daß der überwiegende Teil der Skulpturen von großen Firmen und Organisationen für ihre Weihnachts - und Silvesterfeier in Auftrag gegeben worden war. Ihr Sinn und Zweck bestand lediglich darin, mit ihrer augenschmeichelnden Präsenz beschwipste Festgäste einen Abend lang zu unterhalten. Ihr großer Auftritt währte nur ein paar bunte Stunden, bis sie schließlich, von Minute zu Minute unförmiger und häßlicher, laut tropfend zusammenschmolzen. Doch gerade diese fragile, nur für den Moment lebende Schönheit beeindruckte mich über alle Maßen. Wenn ich es mir recht überlegte, hatte ich eine solch kunstvolle Pracht noch niemals vorher gesehen.
Ich befand mich also in einer Tiefkühltruhe in Megaformat, genauer gesagt in einem Eishaus. Anzunehmen, daß es zu Beginn seines Betriebs tatsächlich diese schlichte Funktion hatte und Restaurants und Fischmärkte, die nicht über die entsprechende Kühltechnik verf ü gten, mit nichts als Eis in unterschiedlichsten Variationen versorgt hatte. Zwischendurch gab es wohl eine kleine Krise, weil heutzutage sogar gewöhnliche Haushaltsgeräte ganze Eisblöcke herzustellen vermögen. Bis die Eiskünstler sich auf die alte Hütte von Väterchen Frost besannen und ihr zu einem Comeback verhalfen. So h ä tte es gewesen sein können.
Meine Aufgabe war es jedoch nicht, Exkurse in Industriearchäologie anzustellen, ich wollte zwei Lügnern auf die Krallen schauen . Von Fabulous und Adrian war nichts zu sehen. Obwohl mir immer noch mulmig zumute war und der bittere Frost alles daransetzte, mich ebenfalls in eine Eisskulptur zu verwandeln, wagte ich mich aus
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