Ferne Tochter
nicht so einfach.«
»Das kann ich mir vorstellen.«
»Wir müssen los!«, ruft sie.
»Fahrt vorsichtig. Und wenn ihr müde werdet, schlaft lieber ein paar Stunden. Der Gesangsunterricht kann sicher nachgeholt werden.«
»Du klingst wie Papa«, ruft Tessa.
»Alles Gute«, sage ich und reiche ihr die Hand.
Ihre ist schmal und kühl.
»Bis bald.«
Sie lächelt, sagt weder ja noch nein.
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42.
F rancesco kommt mir im Flur entgegen. Wir stehen uns ein paar Sekunden lang abwartend gegenüber, dann nimmt er mich in die Arme.
»Wie war’s?«
»Aufregend …«
»Ich bin so erleichtert, dass du dich mit deiner Tochter getroffen hast … und ich nicht alles verdorben habe …«
»Hier ist das Geld zurück.«
Er nimmt die Scheine und steckt sie in seine Hosentasche.
»Hast du ihr erklärt, wieso ich …«
»Ja«, unterbreche ich ihn und gebe ihm einen Kuss. »Ich habe ihr alles erklärt.«
Er drückt mich an sich, legt seinen Kopf auf meinen. Ich schließe die Augen. In meiner Wut habe ich nicht gemerkt, wie groß meine Sehnsucht nach ihm ist. Vielleicht schaffe ich es doch, seine harten Worte zu vergessen.
Wir liegen im Bett. Es regnet. Schon lange habe ich nicht mehr diese Nähe zu Francesco gespürt.
»Erinnerst du dich an den Sonntag nach deinem ersten Besuch in Hamburg …«
»Ja …«
»Da haben wir auch bei Regen miteinander geschlafen.«
»Und du hast mich gefragt, was mit mir ist.«
»Du warst mir so fern. Ich dachte, dass du dich in jemand anderen verliebt hättest.«
»Ich weiß, dass du das gedacht hast. Wäre es besser gewesen, wenn ich dir damals von Tessa erzählt hätte?«
»Vielleicht … obwohl … ich wäre wahrscheinlich genauso geschockt gewesen.«
»Aber ich hätte dich nicht weiter belügen müssen.«
Wir schweigen.
»Die Frau, mit der Selina mich neulich gesehen hat, ist übrigens eine Kollegin von Giovanna.«
»Aha.«
»Wir haben uns zufällig auf der Vernissage getroffen.«
»Du bist sonst nie allein zu solchen Veranstaltungen gegangen.«
»In den letzten Wochen schon … Wenn ich es im Büro nicht mehr ausgehalten habe und noch nicht nach Hause wollte …«
Ich denke an Tessa und Fabian. Wo mögen sie jetzt sein? Irgendwo in Norditalien? Hoffentlich geht alles gut.
»Mein Vater hat mir erzählt, dass du angefangen hast, nach einer Wohnung zu suchen.«
»Wundert dich das?«
»Ja, wobei … wenn ich es mir jetzt überlege, auch wieder nicht. Ich habe unter einer Art zeitlosen Glocke gelebt … habe versucht, jeden Gedanken an die Vergangenheit oder die Zukunft zu verdrängen … Sonst hätte ich nicht arbeiten können …«
»Und ich habe fast nur an die Vergangenheit und die Zukunft gedacht. An all das, was ich glaubte, verloren zu haben …«
»Mein Vater hat mich neulich abends zur Rede gestellt. Ob ich eigentlich wisse, was für ein egoistischer Mensch ich sei. Wenn ich so weitermachte, würde ich die Liebe meines Lebens aufs Spiel setzen.«
»Vincenzo hat die Fähigkeit, die Dinge auf den Punkt zu bringen.«
»Er war von Anfang an auf deiner Seite. Giovanna und er haben sich darüber richtig gestritten.«
»Sie hat mich noch nie gemocht.«
»Giovanna ist eifersüchtig auf dich.«
»Das mag sein.«
»Du wirst übrigens ein Geschenk von Vincenzo bekommen.«
»Wieso? Es gibt gar keinen Anlass.«
»Doch … weil du eine wunderbare Schwiegertochter bist … Er will dir seine neue Skulptur schenken.«
»Den Surrealistischen Engel?«
»Ja. Engel zu Engel, meinte er. Und ich kann ihm nur recht geben.«
Was hat Vincenzo über Dalí gesagt? Er glaube, dass jeder Mensch einen Engel in sich trage. Wer so denkt, hat noch Hoffnung.
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43.
A m Montagmittag schicke ich Tessa eine SMS .
Seid ihr gut angekommen? Gruß, J.
Sie antwortet nicht. Von Rom nach Hamburg fährt man siebzehn, achtzehn Stunden. Fabian könnte am Steuer eingeschlafen sein. Oder haben sie gesagt, dass sie sich abwechseln wollten? Hat Tessa überhaupt einen Führerschein? In den Alpen liegt schon Schnee. Ich höre stündlich Nachrichten, es ist von mehreren Unfällen auf den Schweizer Autobahnen die Rede. Was für ein Wahnsinn, die Nacht durchzufahren! Ich hätte ihnen sagen sollen, übernachtet im Hotel. Ich bezahle es euch.
Francesco versucht, mich zu beruhigen. Harald Jansen hätte mich sicher angerufen, wenn den beiden etwas passiert wäre.
Um halb zwölf schreibt Tessa zurück:
Ja.
Mehr nicht.
Am nächsten Morgen telefoniere ich mit Mutter, erzähle
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