Feuer brennt nicht
folgenden Tagen fahren sie immer wieder in den Bezirk, um herauszufinden, ob das Haus auch wirklich das geeignete ist. Denn vor allen Dingen wollen sie ruhig wohnen. So gesehen ist ein Dachgeschoss schon mal besser als jede andere Etage; der Trittschall vonoben entfällt. Und die übrigen Mieter scheinen den Gardinen nach gutbürgerlich zu sein, keine Rapper oder Punks. Die S-Bahn hört man kaum, die Güterzüge nur abends ein oder zwei Stunden lang, und die Flugzeuge, die über dem Bezirk nach Tegel einschwenken, fliegen bei klarem Wetter sehr hoch; ohnehin will man den Airport schließen. Doch die Straße vor dem Haus wird von vielen Autofahrern zur Umgehung einer Ampelanlage mit langen Rotphasen genutzt, und auf dem Kopfsteinpflaster klingen alle Reifen, als hätten sie Spikes. Auch vom nahen Fürstenwalder Damm ist dieses Ratschen zu hören, unablässig, und fahren sie über Bodenwellen, kracht und scheppert es auf den Ladeflächen der Laster. Doch Alina tröstet Wolf mit der Hoffnung, dass man das in der Wohnung vielleicht nicht wahrnimmt. In jedem Fall ist es leiser als in Kreuzberg, am dröhnenden Südstern.
Lärmphobie als Berufskrankheit; man hört die Flöhe der Flöhe husten. Dabei haben ihm Geräusche lange Zeit nichts anhaben können; auf den Rockfestivals seiner Jugend schlief er schon mal unter der Bühne, und noch als Dreißigjähriger begann er den Tag mit voll aufgedrehten »Dum Dum Boys« von Iggy Pop. Eine Wohnung danach auszusuchen, ob sie ruhig ist oder laut, auf die Idee kam er nie; stets war er froh, dass er überhaupt eine hatte. Erst als er anfing, Prosa zu schreiben, ging ihm Lärm plötzlich auf die Nerven. Er fühlte sich wie gehäutet von der Scharfkantigkeit der Geräusche und machte die banale Erfahrung, dass Sprache, in der mehr anklingt als das Alltägliche, nicht ohne Stille zu haben ist. Denn die ist nicht einfach nurLautlosigkeit; sie ist die Übersetzung der Wahrheit ins Akustische, ihr muss er ablauschen, was übertragen werden will in die Schrift, und seitdem verschlingt die Suche nach Verhältnissen, in denen er arbeiten kann, nach wirklich ruhigen Hotels oder Inseln ohne Autoverkehr, annähernd so viel Energie wie die Arbeit selbst. Andererseits ist ihm der Wunsch, etwas in Ruhe zu schreiben, auch wieder verdächtig; die wesentlichen Texte scheren sich nämlich nicht darum, ob es laut ist oder leise im Raum; was Gestalt annehmen will, tut es in fast jeder Situation.
Es vergehen gut zwei Wochen, ehe sie die Wohnung besichtigen können. Obwohl es ein kalter, fast frostiger Morgen Ende März ist, sind alle Fenster weit geöffnet, und sie lassen die Mäntel an, als die Vermieterin sie herumführt. Es gibt drei Zimmer, ein Bad, ein Gäste-WC und begehbare Schränke, und die Küche macht mit ihren Einbaumöbeln, dem Ceranherd und der polierten Abzugshaube unter alten Balken einen fast luxuriösen Eindruck. Doch Wolf, der einmal als Maurer gearbeitet hat, sieht auf den ersten Blick, dass hier sehr billig restauriert wurde, mit entsprechenden Baustoffen; Spanplatten liegen unter dem Teppichboden, und die Giebelwände sind mit Rigips verschalt, was oft ein Zeichen von verborgener Feuchtigkeit oder gar Schimmel ist. Zudem glaubt er den durchsottenen Kamin zu riechen, und ob die schrägen Fenster dicht sind, ist angesichts der Wasserspuren an den Rahmen fraglich. Doch als er die Frau darauf anspricht, schüttelt sie den Kopf. »Davon verstehe ich nichts. Fragen Sie meinen Mann, der ist Architekt. Wir haben dreiMietshäuser, alle von ihm ausgebaut, und bisher hat sich noch niemand beschwert.«
Dieser Hinweis auf den Beruf ihres Mannes beschwichtigt ihn, und nach einem Blick in Alinas Augen mag er nicht den Miesepeter spielen. Sie ist begeistert von den Räumen und kneift ihn heimlich, während sie der Frau durch die Glastür auf die Dachterrasse folgen. Ein Hauch von Raureif liegt über den Höfen und weitläufigen Gärten unter ihnen, die zarten Kristalle an den Zäunen und Sträuchern und Kohlstrünken funkeln in der fahlen Sonne. Irgendwo am Waldrand klingelt eine Tram, ein Taubenschwarm kreist über dem Schlag, und in einer offenen Remise schnaubt ein Pferd, von dem sie freilich nur den Atem sehen. »Das ist unsere Wohnung«, flüstert sie, als die Vermieterin sich über die Brüstung beugt und etwas in den ersten Stock hinunterruft, wo ihr Sohn lebt. »Oder nicht?«, insistiert sie beinahe ängstlich, und einmal mehr bewundert er die Tapferkeit und den unbedingten Zukunftswillen
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