Das Ende des Himmels: Roman (German Edition)
Prolog
Sie sind auf der Jagd nach Indrani, sie durchkämmen das Dach, sie projizieren überall ihr Bild. Trupps stürmen die Wohnungen. Sie schwenken Waffen, leuchten mit Lampen in die Gesichter der Frauen. »Ist sie das? Was meinst du? Mann, für eine so hohe Belohnung …«
Aber auch Indrani ist auf der Jagd. Alles, was sie in ihrem kurzen Leben gesehen hat, wurde mit neunzig Bildern pro Sekunde aufgezeichnet. Fast drei Milliarden Bilder pro Jahr, und das sind nur die visuellen Informationen! Auch Gerüche wurden digitalisiert und gespeichert, jeder Duft, den sie wahrgenommen hat, aufgehoben, für den Fall, dass sie ihn eines Tages noch einmal erleben möchte.
Sie könnte sich entscheiden, den Geruch der Haut ihres Vaters während ihres ersten Kampfes mit einem feindseligen Kind in ihrer Krabbelgruppe abzurufen.
»Böses Mädchen!«, sagte er damals, doch jedes Mal, wenn sie auf diese Aufzeichnung zugreift (eine ihrer Favoriten), hört sie auch den Stolz über ihren Sieg, obwohl er ihn zu unterdrücken versucht. Er hat sie sogar in diesem Moment ausgebildet, ob bewusst oder nicht, zu dem »Mädchen, das niemals verliert«. Bis sie ihn verlor, als er von religiösen Rebellen ermordet wurde.
Was sie ganz besonders an dieser Szene mag, ist die leichte Feuchtigkeit seiner Haut, die sie auf ihrer spürt. Er hat geschwitzt und sich ehrliche Sorgen gemacht. Für sie ist es der Beweis seiner Liebe, obwohl er solche Angelegenheiten normalerweise für sich behalten hat.
Doch Indrani kann es sich nicht erlauben, in kindlichen Triumphen zu schwelgen. In diesen Tagen grübelt sie viel häufiger über die Ereignisse nach, die schließlich dazu führten, dass sie über der Oberfläche der Welt abgeschossen wurde. Jemand – sag es, Indrani, sprich es aus : die Kommission, die Herrscher des Daches, ihre angeblichen Freunde und Verbündeten – jemand hat versucht, sie zu töten. Das versteht sie nicht, aber noch viel seltsamer ist für sie die Tatsache, dass sie es sich später anders überlegt und große Mühen auf sich genommen haben, um sie stattdessen zu retten. »Wir bringen dich zurück«, haben sie versprochen. »Wir lassen auch deinen Wilden am Leben. Hauptsache, du kommst zurück …«
Die Lösung dieses Rätsels liegt tief in den 42 . 60 1 . 850 . 100 Bildern verborgen, die ihr Leben ergeben, oder in den Terabytes von Ton- und Geruchsaufzeichnungen oder den Daten all ihrer Empfindungen … Sie muss nur sich selbst retten und jene, die sie liebt, um es hervorkramen zu können.
Was natürlich unmöglich ist. Eher würde eine Blinde ein bestimmtes Reiskorn auf der Oberfläche der Welt finden. Manchmal weint Indrani, wenn sie daran denkt. Sie hat nie geweint, bevor sie das Dach verließ, aber jetzt ist sie nicht mehr das »Mädchen, das niemals verliert«. Sie hat Intelligenzwesen getötet und ihr Fleisch gegessen. Sie hat genug Schrecken erlebt, um zu erkennen, wie zerbrechlich jedes Glück ist, wie sehr das Universum danach strebt, es einem wegzunehmen.
Also sucht sie weiter, unablässig. Und in der Zwischenzeit rückt die Kommission, rücken ihre Verfolger immer näher.
1
Der Deserteur
Die Sphäre schwebte nur eine doppelte Mannslänge über dem verletzten Stolperzunge. Indrani beugte sich aus der Tür, mit Blut am Kinn, eine Hand zu ihm hinuntergestreckt.
»Versprich mir, dass du zurückkehren wirst«, sagte er.
»Natürlich werde ich zurückkehren. Mit Saatgut, damit keiner von uns mehr zum Freiwilligen werden muss. Ich werde Waffen mitbringen, damit wir uns gegen die Wühler verteidigen können. Und danach werde ich dich nie mehr alleinlassen.« Ihre Stimme brach und wurde zu einem Schluchzen. »Nie mehr.«
Stolperzunge erwachte stöhnend. Ich träume. Ja, er hatte wirklich geträumt. Den üblichen schrecklichen Traum.
Sein Körper war in Schweiß gebadet, und alle Wunden, die er am Tag ihres Abschieds erlitten hatte, schmerzten ihn, als wären sie frisch. Indrani fehlte ihm. Sie fehlte ihm so sehr! Aber im Schlaf erlebte er niemals die schönen Momente, die sie miteinander verbracht hatten. Er sah immer nur den Abschied. Nacht für Nacht.
Neben ihm zischte und knackte ein Feuer, ringsum war das Stöhnen und Wimmern seines kleinen Stammes zu hören. Alle schliefen noch. Stolperzunge stutzte. Machten sie immer so viel Lärm? Er schüttelte den Kopf und griff sich eine Handvoll gestampftes Moos, um sich den kalten Schweiß abzuwischen. Als er den Hals reckte, um sich auch dort zu säubern, blickte er
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