Fey 06: Die Erben der Macht
konnte, wie sie Gestaltwandlerkindern häufig zustießen. Nicholas erinnerte sich nur zu gut daran, wie Arianna als kleines Mädchen zwischen zwei Gestalten steckengeblieben war oder sich in Gestalten Verwandelt hatte, die sie nicht hatte beibehalten können. Nicholas besaß keine magischen Kräfte. Er konnte ihr in einem solchen Fall nicht beistehen.
Schon in den vergangenen Tagen hatten sie auf dieser Straße andere Reisende getroffen. Der Umhang hatte Arianna immer geschützt.
So schwang sie ihn auch jetzt über die Schultern, zog die Kapuze in die Stirn und senkte den Kopf. Nicholas hakte sie unter, so daß ein Vorübergehender seine eigenen Schlüsse ziehen konnte.
Aber je näher sie dem Fremden kamen, desto unbehaglicher fühlte sich Nicholas. Der Gang des Reisenden kam ihm irgendwie vertraut vor. Der Unbekannte trug ebenfalls eine Robe und war größer als die meisten Inselbewohner.
Mit einem Mal wurde Nicholas’ Mund trocken. Das Haar, das wie ein Heiligenschein um den Kopf des Näherkommenden stand, war schlohweiß.
Die Schamanin.
Vor ihr konnte Nicholas sich nicht verstecken. Und es war ihre Pflicht, den Fey über diese Begegnung Bericht zu erstatten.
Sie blieb stehen, als wüßte sie, daß Nicholas sie erkannt hatte. Nicholas ging weiter. Er wollte Arianna noch nicht erzählen, daß ihre Flucht umsonst gewesen war. Als sie die Schamanin erreicht hatten, neigte er statt einer Begrüßung kurz den Kopf. Die Frau hatte ihm geholfen, wann immer sie konnte, aber daß sie eine Fey war, hatte für sie trotzdem an erster Stelle gestanden.
Nicholas hätte selbst nicht anders gehandelt.
Sie sah dünner aus als früher und irgendwie jünger. Ihre Wangen waren zart gerötet, und ihre nußbraunen Augen funkelten voller Wärme und Intelligenz.
»Ich habe lange Zeit auf Euch gewartet«, begann sie und strich ihm mit der Hand über die Wange.
»Ihr habt doch selbst gesagt, daß wir uns wiedersehen würden.«
Sie lächelte. Ihre Augen waren ungetrübt. Kein Doppelgänger hatte sie gefunden und getötet. Es war eindeutig die Schamanin.
»Ihr habt die Zukunft verändert. Alles ist unklar geworden.«
Nicholas verstand diese Bemerkung nicht ganz, aber er wollte lieber nicht darüber nachdenken, was er vielleicht angerichtet hatte.
Er würde später nachfragen.
»Arianna«, sagte er. »Du brauchst dich nicht länger zu verstecken.«
Arianna setzte die Kapuze ab. Ihre Lippen bewegten sich, als sie die Schamanin erkannte, aber kein Laut war zu hören. Dann brach sie völlig überraschend in Tränen aus.
Nicholas nahm sie in die Arme und drückte ihr Gesicht gegen seine Schulter. Arianna schluchzte so heftig, daß es sie schüttelte. So hatte sie noch nie geweint. Tatsächlich vergoß sie nur selten Tränen. Und seit Sebastians Tod hatte sie überhaupt nicht mehr geweint.
»Was soll nun geschehen?« fragte Nicholas, das Kinn auf dem Haar seiner Tochter.
»Ihr kommt mit mir«, erwiderte die Schamanin. Sie lächelte.
Nicholas strich seiner Tochter über den Kopf und zog sie noch enger an sich. »Das können wir nicht«, erklärte er. »Ich habe den Schwarzen König getötet.«
Das Lächeln der Schamanin verschwand. »Wenn du nur recht hättest, mein Sohn«, murmelte sie. »Unser Leben wäre um so vieles einfacher. Aber er lebt. Und weil er lebt, braucht ihr Hilfe.«
»Ihr wollt uns nicht vor ihn bringen?«
Die Schamanin schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich?« sagte sie. »Für ihn bin ich eine Versagerin. Er würde erst mich töten, dann Euch, und dann Eure Tochter in ein Geschöpf verwandeln, das keiner von uns wiedererkennen würde. Nein, Nicholas. Ich bin hier, um Euch zu helfen.«
Nicholas strich Arianna das Haar aus dem Gesicht und schob sie sanft von sich. Ihre Haut war fleckig und ihre Augen gerötet.
»Sie lügt«, flüsterte Arianna.
Nicholas schüttelte den Kopf. »Sie hat noch nie gelogen. Sie trachtet dir nicht nach dem Leben, Arianna. Sie ist diejenige, die dir das Leben gerettet hat.«
»Nein«, widersprach die Schamanin. »Ich bin nur meiner Vision und meinem Herzen gefolgt. Und nun müßt ihr beide es ebenso machen. Wir haben hundert Möglichkeiten der Zukunft. Wir müssen die richtige wählen.«
Arianna wischte sich mit dem Handrücken die Tränen ab. »All diese Visionen? Sie bedeuten, daß wir eine Wahl haben?«
»Eine Menge Wahlmöglichkeiten«, berichtigte die Schamanin. »Das hat dein Vater für uns alle erreicht, indem er gekämpft und sich nicht freiwillig dem Imperium der
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