Fida (German Edition)
hinterher. „Dich sollte man anzeigen!“ Hätte sein Fahrrad ein Nummernschild, würde sie schnurstracks zur Polizei gehen. Die Lackierung ist auffällig, ein orange-rotes Flammenmuster auf schwarzem Grund, doch sie bezweifelt, dass die Polizei danach suchen, ihn finden und ihn sogar für seine Frechheit bestrafen würde. Obwohl der Radfahrer schon fast außer Sichtweite ist legt sie noch einmal nach und brüllt: „Du Arsch!“
Es ist eine unbestimmte Wut auf alles, der sie mit diesem Aufschrei und ihrem Gemecker freien Lauf lässt. Für den Moment überdeckt sie ihre anderen Emotionen und lenkt von den morbiden Gedanken ab, die sich auf diesem verlassenen Stück ihres Weges noch mehr in Tatjanas Bewusstsein drängen als sonst. Außerdem hält die Wut sie davon ab, sich an den Straßenrand zu setzen und ihren Tränen freien Lauf zu lassen.
In diesem Moment des Zorns hat sie etwas Furioses und Aufrechtes an sich, doch schon einen Augenblick später sacken ihre schmalen Schultern wieder hinunter und sie wirkt ebenso verlassen wie der Ort selbst. Als würde sie hierher gehören. Mit ihrem grauen Mantel und den fransigen Haaren, die seit Monaten keinen Frisör gesehen haben und kraftlos im Wind flattern. Ebenso verloren wie die Blätter, die auf dem Boden liegen, oder die im Gestrüpp hängende, ausgefranste Schnur, welche der Straßendreck und die Abgase einfärbten.
Eilig sammelt sie ihre nun herabgefallenen Klarsichthüllen ein und wischt die Tropfen des Spritzwassers ab, die auf ihnen landeten. Dann presst sie die Hüllen, die alle dasselbe beinhalten, wie einen Schatz an ihre Brust. Langsam, nun leicht hinkend, geht sie weiter. Sie sieht älter aus als sie ist. Würde sie sich die Haare tönen und anders kleiden, dazu noch ein Lächeln aufsetzen, käme man nicht umhin, sie als attraktive Frau zu beschreiben. Doch während des letzten Jahres ist sie um Jahrzehnte gealtert. Vor allem innerlich. Ihre Sorgen und die quälende Ungewissheit haben auch Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen; Falten, die sich auf der Stirn und seitlich der nun meist zusammengekniffenen Lippen eingruben, die früher gern und viel lachten. Vor allem aber hinterließen sie Narben in ihrer Seele. Sie rauben ihr den Schlaf, was man ihr auch ansieht. Ihre Haut ist blass, mit dunklen Schatten unter den Augen, und würde Edvard Munch sie malen, hieße das entstehende Gemälde vielleicht „Vor dem Schrei“.
Einmal in der Woche geht sie hier entlang, mit ausgebeulten Manteltaschen und müden Schritten, immer derselben Route folgend. Sie beginnt bei ihr zu Haus, führt sie an der ersten Bushaltestelle vorbei, dann an einem Spielplatz, der nachmittags ein beliebter Treffpunkt für Mütter mit Kleinkindern ist. Ein paar Straßen weiter kommen eine Bäckerei und ein kleiner Kiosk. An jedem dieser Orte macht sie kurz Halt, um etwas zu hinterlassen. Dann biegt sie in die lange Straße ein, die sie an diesem verlassenen Ort, an dem sie gerade ins Straucheln kam, vorbei zur nächsten Bushaltestelle führt. Die Trostlosigkeit zu umgehen wäre ein Umweg. Egal ob es stürmt, schneit, oder ob die Sonne scheint, immer mittwochs nimmt sie diesen Weg auf sich. Manchmal ist sie kurz davor, nicht zu gehen. Einfach zu Hause sitzen zu bleiben, und damit dem Rat ihres Mannes zu folgen, der längst den Kopf über sie schüttelt und nicht begreift, warum sie sich diesen Gang immer wieder antut.
„Tatjana, warum quälst du dich so?“, hat er sie schon öfter gefragt. Jochen versteht nicht, dass sie nicht anders kann. Dass sie gehen muss, auch wenn es ihm längst sinnlos erscheint. Er sagt, dass sie sich damit nur selbst verrückt macht. Sie müsse lernen, mit der Sache abzuschließen, so schwer es auch sein mag. Manchmal denkt sie, er hat Recht, beneidet ihn darum, wie er das alles wegsteckt. Sie ist sich bewusst, dass es auch für ihn alles andere als einfach ist, doch nach außen hin wirkt es, als würde es ihm kaum Mühe bereiten. In anderen Momenten hasst sie ihn fast schon dafür, dass er anscheinend einfach weitermachen kann, Tag für Tag, und versucht, sein verdammtes Leben zu führen, als würde darin nicht etwas Elementares fehlen. Dabei ist nichts mehr normal, gar nichts! Anfangs begleitete er sie noch, dann nicht mehr und mittlerweile kritisiert Jochen offen, dass sie es nicht endlich gut sein lassen kann.
„Warum reißt du diese Wunde immer wieder neu auf?“, fragte er sie im letzten Streit, mit vorwurfsvollem Unterton in der Stimme. Seitdem hat
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