Finnisches Blut
Alternative. Er war gezwungen, seine Ehre zu verschlucken und seine Seele zu verkaufen. Nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, wollte er auch dazu stehen, so wie das nur ein finnischer Offizier vermochte. Um jeden Preis. Bis zum Ende.
Als er sich entschieden hatte, fühlte er sich jedoch nicht erleichtert. Er konnte sich nicht erinnern, jemals so eine Beklemmung und Bedrängnis empfunden zu haben, seit er sein engstirniges, strenggläubiges Elternhaus verlassen hatte und zur Armee gegangen war. Diese Bedrängnis war ein niederschmetterndes Gefühl, das ihn in die Flucht trieb und zugleich lähmte.
|42| Siren überlegte, was ihn eigentlich quälte. Reettas Geld und ihre Freunde aus der Oberschicht, die gesellschaftliche Wertschätzung, die sein Amt mit sich brachte, und der Schnaps hatten über Jahrzehnte sein Wohlergehen garantiert, doch dieses beklemmende Gefühl war er nie gänzlich losgeworden. Lag die Ursache dafür etwa doch bei ihm? Hatte er schon als Junge falsch gehandelt, weil er das einfache, fromme Leben nicht zu schätzen wußte, sondern unbedingt kosten wollte, was die Welt zu bieten hatte? Seine Familie und die ganze Laestadianer-Gemeinde von Himanka hatten alle Verbindungen zu ihm abgebrochen. Mit Ausnahme eines einzigen Freundes.
Würde er seine innere Ruhe finden, wenn er doch gegenüber der Gesellschaft für den Tod des Mädchens Wiedergutmachung leistete? Bestimmt nicht. Falls er die Verantwortung für das Überfahren des Mädchens übernahm, bedeutete das Gefängnis und Bankrott. Er müßte alles aufgeben, wofür er gelebt und gearbeitet hatte, alles, was irgendeinen Wert hatte: sein Amt, sein Eigentum, die Wertschätzung der Gesellschaft. Und was würde ihm bleiben – seine Ehre? Ein Rentner, der im Gefängnis gesessen hat, besitzt keine Ehre. Er würde seine letzten Jahre als verachteter Nichtsnutz verbringen, der sich mit seiner Offiziersrente durchschlug.
Sirens Blick fiel auf das Bild Siiris, das am Rande seines Schreibtisches einen Ehrenplatz einnahm, und er schämte sich. Sein Mund war trocken, und er goß sich wieder Kognak ein. Der schmeckte nach Wasser. Der vierschrötige Offizier ging langsam auf und ab, seine Schritte wurden von dem blutroten Perserteppich gedämpft, den Reetta geerbt hatte.
Der Plan mußte so skrupellos wie möglich ausgeführt werden. Sonst brauchte er gar nicht erst anzufangen. Da nicht viel Zeit blieb, war er gezwungen, Maßnahmen zu ergreifen, die bis |43| an die äußersten Grenzen seiner Befugnisse gingen. Auch einen Assistenten mußte er noch anwerben, denn er hätte auf keinen Fall die Zeit und auch nicht die Fähigkeit, alle Einzelheiten seines Plans selbst auszuführen. Vor dem Treffen mit Manneraho mußte er seine Strategie endgültig festlegen und die notwendigen Anrufe erledigen, damit die Theateraufführung am Abend gelang. Dann war wirklich alles bereit, und das Spiel konnte beginnen.
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Nach dem Treffen mit Manneraho war Ratamo mitten in eine Champagnerparty geraten, die ganze Abteilung für Virologie feierte, weil nun ein Gegenmittel gefunden war. Der Held des Tages trank ein nicht ganz gefülltes Glas Sekt, verschwand dann still und heimlich und machte sich daran, den Poststapel auf seinem Schreibtisch abzuarbeiten. Lange konnte er sich jedoch nicht auf die Routinearbeiten im Büro konzentrieren. Nachdem sich der drei Monate dauernde Streß und die Anspannung entladen hatten, brauchte er erst einmal ein wenig Zeit für sich selbst.
Ratamo drehte den Lautstärkeregler seines Autoradios bis zum Anschlag. Es war Viertel vor fünf und unverändert drückend heiß, als er an der Post vorbei in Richtung des Sportzentrums von Töölö fuhr. Er genoß die Wärme und die fröhlichen Gesichter der Menschen auf der belebten Mannerheimintie. Immer wieder schaute er hinüber zu den leichtbekleideten Frauen auf den Fußwegen und war glücklich, daß von den in ihre Wintersachen eingewickelten griesgrämigen Mumien keine Spur mehr zu sehen war.
Am besten entspannte sich Ratamo beim Sport. Seit seiner Kindheit war er es gewöhnt, fast jeden Tag Sport zu treiben. Wenn er sich nicht in regelmäßigen Abständen physisch belasten durfte, würde er die Wände hochgehen. Er war mit seinem Freund Timo Aalto verabredet, sie wollten im ehemaligen |45| Sportzentrum des Finnischen Sportbundes gemeinsam Federball spielen.
Aalto war einer seiner ganz wenigen Freunde. Schon als kleiner Junge hatte Ratamo seine Zeit lieber für sich allein verbracht. Er
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