Faunblut
Jäger und Gejagte
Auf den ersten Blick sahen sie erschreckend menschlich aus. Soweit Jade von ihrem Platz im Schatten der Mauer erkennen konnte, waren es nur zwei Gestalten. Sie standen mitten auf dem alten Rathausplatz und starrten nach oben, zu den gezackten Ruinenrändern der Häuser, die in den wirbelnden Wolkenhimmel ragten. Beide waren von Kopf bis Fuß verhüllt, aus dem Saum troff schmutziges Wasser. Sogar die Köpfe hatten sie bedeckt – der eine mit einem lumpigen Fetzen, der andere mit etwas, das ein Stück von einem feinmaschigen Fischernetz sein mochte. Im fahlen Licht des Frühsommermorgens lagen ihre Gesichter im Schatten, sodass es aussah, als stünden auf dem verlassenen Rathausplatz körperlose Wesen – Gespenster der ehemaligen Bewohner, die vor ihren zerstörten Behausungen warteten, wo Fensterhöhlen, so leer wie ihre unsichtbaren Gesichter, erbarmungslos gleichgültig zurückstarrten.
Jade drückte den Rucksack an ihre Brust und wich zur Mauer zurück. Obwohl der Morgen so kühl war, dass sie ihren Atem sehen konnte, fühlte sie sich plötzlich, als würde sie vor Fieber glühen. Sie atmete tief durch, um die Furcht nicht übermächtig werden zu lassen. Sie wusste, sie sollte, so schnell es ging, von diesem Ort verschwinden, dennoch blieb sie stehen, unfähig, den Blick abzuwenden. Gegen ihren Willen fasziniert, verfolgte sie die geschmeidigen Bewegungen, die den beiden Gestalten die Anmutung von Tänzern verliehen. Sie verrieten sich allein schon durch die Art, wie sie sich umsahen und einige Schritte weiterglitten, wie sie das Ausmaß der sie umgebenden Zerstörung in ihre Gesten und Haltung aufnahmen und spiegelten. Etwas Fließendes lag darin, zu flink und flüchtig, um menschlich zu sein. Vor dem ehemaligen Rathaus, von dem nur noch die von Einschusslöchern durchsiebte Front stand, blieben sie abermals stehen und sahen nach oben.
»Komm, weg hier!« Lilinns kräftige Hand legte sich auf ihre Schulter.
»Das … das sind Echos!«, wisperte Jade atemlos.
»Ich weiß. Sie dürfen uns nicht entdecken.«
Jade schluckte. Natürlich nicht. Nur zu gut erinnerte sie sich an den übel zugerichteten Leichnam eines Mannes, den Martyn und die anderen Flussleute vor einigen Wochen aus dem Hafenbecken geborgen hatten. Und auf dem Schwarzmarkt erzählte man sich, dass vor wenigen Tagen zwei Wächter der Lady aufgefunden worden waren – vor den Gittern des Goldenen Tores, mit Wunden im Genick und einem Ausdruck des Entsetzens auf den erstarrten Gesichtern.
Langsam zog sich Jade zurück, einen tastenden Schritt nach dem anderen, geduckt und so vorsichtig, dass nicht einmal der zerbröckelte Marmor unter ihren Schuhen knirschte. Noch vier Schritte, noch drei bis zum Ende der Mauer. Immer noch hielt sie ihren leeren Rucksack wie einen Schutzschild vor ihrer Brust. Ihre Nackenhärchen stellten sich auf bei dem Gedanken, dass tote Augen sie vielleicht längst im Schatten erspäht hatten und jede ihrer Bewegungen verfolgten. Jedenfalls hieß es, sie hätten tote Augen. Die Geschichten, die man den Kindern zuflüsterte, wenn sie nicht folgsam waren, erzählten von Bestienfratzen, Fangzähnen und einer Zunge, die so lang und scharf war wie ein Dolch und den Tod brachte. Andere beharrten darauf, dass die Echos Mumiengesichter hatten, nur die Augen, klar und grün wie die Wasser der Wila, würden leben und jeden lähmen, der zu tief hineinblickte.
Obwohl Jade vor Angst und Anspannung kaum Luft bekam, konnte sie einfach nicht anders: Kurz bevor sie hinter Lilinn um die Ecke huschte, warf sie einen raschen Blick zurück.
Die Echos waren verschwunden. Nur das Wasser, das aus den nassen, lumpenähnlichen Umhängen geflossen war, glänzte noch auf dem Steinboden.
»Lilinn! Sie sind fort!« Ihr Flüstern war kaum wahrnehmbar gewesen, doch die Köchin fuhr herum und runzelte besorgt die Stirn. Sie hatte nicht oft harte Augen, aber hier, im Schatten, glichen sie mehr denn je hellblauen Habichtaugen, ein Eindruck, der durch die Umrandung mit schwarzer Schminke noch betont wurde.
»Verdammt«, stieß sie zwischen zusammengepressten Zähnen hervor. Jade wusste, dass sie in diesem Moment dasselbe dachten. Sie wechselten einen stummen Blick, dann drückten sie sich an die nächste schützende Mauer und hielten den Atem an. Doch es war zu spät, um sich zu verstecken: Marmortrümmer knirschten unter schnellen Schritten. Und die Schritte kamen genau auf sie zu.
Dort entlang! , bedeutete Lilinn mit der Hand. Zur
Weitere Kostenlose Bücher