Flammenkinder: Kriminalroman (German Edition)
mehr geschlafen. Er betrachtet seinen neuen Kollegen eine Weile und seufzt dann schwer, ehe er zu einer Erklärung ansetzt.
»Jurek Walter wird mit Ihnen sprechen, ganz ruhig und sicher sehr nett«, berichtet er mit ernster Stimme. »Aber heute Abend, wenn Sie nach Hause fahren, werden Sie Ihr Auto auf die Gegenfahrbahn lenken und frontal mit einem Lastwagen zusammenstoßen … oder Sie fahren beim Baumarkt vorbei und kaufen sich eine Axt, bevor Sie Ihre Kinder aus der Kita abholen.«
»Soll ich jetzt etwa Angst bekommen?«, sagt Anders Rönn lächelnd.
»Nein, aber Sie werden hoffentlich vorsichtig sein«, entgegnet Roland Brolin. »Ich bin schon einmal zu ihm hineingegangen, letztes Jahr, kurz nach Ostern, da war er irgendwie an eine Schere herangekommen.«
»Er ist ein alter Mann, stimmt’s?«
»Machen Sie sich keine Sorgen, es wird schon alles gut gehen …«
Die Stimme des Oberarztes erstirbt, und sein Blick wird vage. Bevor sie durch die Schleuse treten, flüstert er Anders zu:
»Verhalten Sie sich, als wären Sie sehr gelangweilt, als wäre das, was Sie in seiner Nähe machen, trostloser Alltag, so wie Betten machen im Pflegeheim.«
»Ich werde mir Mühe geben.«
Roland Brolins eigentlich schlaffes Gesicht ist mittlerweile angespannt, und sein Blick ist hart und nervös:
»Wir sagen ihm nicht, was wir tun werden, sondern tun so, als würden wir ihm wie üblich eine Spritze Risperdal injizieren.«
»Aber …«
»Aber stattdessen verabreichen wir ihm eine Überdosis Mirtazapin«, erläutert der Oberarzt.
»Eine Überdosis?«
»Ich habe es beim letzten Mal ausprobiert und da … Also schön, zuerst wurde er verdammt aggressiv, aber nur kurz, denn dann setzten die Bewegungsstörungen ein … es begann im Gesicht und mit der Zunge. Er konnte nicht mehr richtig sprechen. Und danach kippte er um, lag auf der Seite und atmete. Und dann bekam er eine Menge Krämpfe, fast wie ein Epileptiker, das ging ziemlich lange so, aber anschließend war er müde und benommen, fast weggetreten … Diese Phase werden wir ausnutzen, um hineinzugehen und das Messer zu holen.«
»Warum kein Schlafmittel?«
»Das wäre sicher besser«, bestätigt Roland Brolin, »aber ich finde, wir sollten die Medikamente verwenden, die er ohnehin bekommt.«
Sie betreten durch die vergitterte Schleuse Jurek Walters Bereich. Durch das Panzerglas in einer weißlackierten Metalltür mit Riegel und Luke fällt bleiches Licht in den Gang.
Roland Brolin weist Anders Rönn mit einer Geste an zu warten. Er bewegt sich langsamer, als wollte er sich dem Panzerglas möglichst vorsichtig nähern.
Vielleicht hat er Angst, überrascht zu werden.
Er hält Abstand zu dem Glas und bewegt sich seitlich, aber dann wird sein Gesicht auf einmal ruhiger, und er winkt Anders Rönn zu sich. Sie stellen sich an das Fenster in der Tür. Anders Rönn schaut in einen hellen und relativ großen, fensterlosen Raum.
194
AUF EINEM PLASTIKSTUHL in der hermetisch abgeriegelten Zelle sitzt ein Mann in Jeans und Jeanshemd. Er sitzt vorgebeugt, die Ellbogen auf die Knie gestützt. Plötzlich blickt er mit seinen hellen Augen zur Tür auf, und Roland Brolin weicht einen Schritt zurück.
Jurek Walter ist glattrasiert und trägt seine grauen Haare mit Seitenscheitel und Tolle. Sein Gesicht ist blass und von tiefen Falten zerfurcht, ein Netz aus Schmerz.
Roland Brolin kehrt zu der vergitterten Schleuse zurück, schließt einen dunklen Schrank auf und holt drei kleine Glasfläschchen mit breiten Hälsen und Aluminiumverschlüssen heraus, die ein gelbes Pulver enthalten. Er gibt in jedes Fläschchen zwei Milliliter Wasser, schüttelt sie, lässt die Flüssigkeit vorsichtig rieseln, damit sich das Pulver auflöst, und zieht die Flüssigkeit aus den Fläschchen anschließend auf eine Spritze.
Sie kehren zu der Panzerglasscheibe in der Tür zurück. Jurek Walter sitzt inzwischen auf dem Bett. Roland Brolin setzt die Ohrstöpsel ein und öffnet anschließend die Luke in der Tür.
»Jurek Walter«, sagt er mit schleppender Stimme. »Es ist so weit …«
Anders Rönn sieht den Mann aufstehen, den Blick der Luke in der Tür zuwenden und näher kommen, während er sein Hemd aufknöpft.
»Bleiben Sie stehen und ziehen Sie Ihr Hemd aus«, sagt der Oberarzt, obwohl der Mann bereits dabei ist, es zu tun.
Jurek Walter geht langsam weiter.
Roland Brolin schließt die Luke und verriegelt sie mit etwas zu schnellen und nervösen Bewegungen. Jurek Walter hält inne,
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