Flammenspiel
Flammenspiel
Als Kind hatte ich es geliebt, mit der U-Bahn zu fahren. Ich kniete mich auf die Sitzbänke, hielt meine Hände wie Scheuklappen gegen die Schläfen und beobachtete den dunklen U-Bahnschacht. Besonders unter dem Alexanderplatz sah es da draußen geheimnisvoll aus. Ich bewunderte das Wirrwarr von Rohren an den Wänden und entdeckte spärlich beleuchtete Tunnel, die abzweigten und sich in geheimnisvollen Tiefen verloren. Ich stellte mir vor, dass sie zum anderen Ende der Welt führten oder auf einen fremden Planeten und ahnte nicht, wie nah ich damit der Wahrheit kam.
Heute weiß ich, dass Leute mit besonderen Begabungen existieren, die die Tunnel nutzen, um in die magische Welt zu gelangen.
Ich erinnere mich gern an die Ausflüge auf den Fernsehturm, das Gefühl im Bauch, wenn der Fahrstuhl immer schneller nach oben rauschte. Oben im Telecafé schleckerte ich einen großen Eisbecher und fragte mich, wie es wohl wäre, draußen auf dem Gerüst der Fensterputzer zu stehen, gut zweihundert Meter über dem Abgrund. Die langweiligen Gespräche meiner Eltern, Delia und Gregor, mit irgendwelchen Freunden, denen sie Berlin zeigten, wurden zu dumpfem Gebrabbel im Hintergrund. In meiner Fantasie schwebte eine Wolke heran, auf die ich aufsprang und mit ihr über die Stadt flog.
Während ich mich auf die Wolke träumte, besaß ich keinen Schimmer, dass hier tatsächlich mit Ätherfähigkeiten begabte Leute vorbeiflogen, um zwischen der realen und der magischen Welt hin- und herzupendeln.
Nun sitze ich hier, an diesem einmalig schönen Platz im magischen Wald und lasse meine Gedanken schweifen. Inzwischen ist es einige Wochen her, dass auch ich den Weg in die magische Welt gefunden habe. Es kommt mir vor wie Jahre. Meine persönliche Welt hat seitdem tausend Mal Kopf gestanden, sich in alle Einzelteile zerlegt und wieder völlig neu zusammengesetzt – mich eingeschlossen.
Wie immer umgeben mich sommerlich warme Temperaturen, die tagsüber nie unter achtundzwanzig Grad fallen. Hinter mir liegt ein anstrengender Tag an der magischen Akademie. Elemente zu beherrschen ist kein Kinderspiel. Immer aufs Neue staune ich, wie leichtsinnig ich mit ihnen in den vergangenen Wochen umgegangen bin und wie viel Glück ich dabei gehabt habe.
Der magische See schimmert, als wäre er mit einem hauchdünnen Tuch aus Silber überzogen. Gerade geht die Sonne unter und zeichnet wie jeden Abend einen Himmel aus unbeschreiblichen Tönen in Rosa, Lila und Blau. In solch einer Intensität und Leuchtkraft kommen die Farben in der realen Welt einfach nicht vor.
Die Luft ist erfüllt von dem leisen Klingen der weißen Blüten, die sich von den Bäumen des magischen Waldes lösen und herabschweben. Sie sind es, die das silberne Glitzern auf der Oberfläche des Wassers hervorrufen, den Waldboden am Ufer wie einen flauschigen Teppich bedecken und die magische Welt mit einer leisen Hintergrundmusik erfüllen.
Ich rutsche etwas auf dem Felsvorsprung nach vorne und tauche meine Füße in das Wasser.
Am Anfang hatte ich mir vorgestellt, ich würde täglich an der Akademie üben, Wirbelstürme zu erzeugen, Wasserfälle zu stoppen oder Vulkane unschädlich zu machen. Aber das waren nur sportliche Nebenbetätigungen. Inzwischen weiß ich, dass es darum geht, Geisteskraft zu entwickeln – die wesentliche Voraussetzung dafür, den Respekt der Elementarwesen zu erlangen, damit sie einem gehorchen.
Die geistigen Übungen fühlen sich wie ein Frühjahrsputz im Gehirn an. Ich gewinne dadurch nicht nur eine größere Kontrolle über meine Gedanken und Gefühle – beides ist in der letzten Zeit schließlich ständig mit mir durchgegangen –, sondern sie bringen auch Licht in meine Erinnerungen.
Ferne Erlebnisse, die ich längst vergessen habe, fallen mir wieder detailliert ein. Denn das Vergessen besteht in Wirklichkeit nur aus einem dicken Nebelschleier, der sich über alle Erinnerungen legt, die niemals verloren gewesen sind.
Ich erinnere mich plötzlich nicht nur an den Wolkentraum im Fernsehturm oder die geheimen U-Bahn-Tunnel, auch an die Gesichter, die ich immer zu sehen geglaubt hatte, wenn ich als kleines Mädchen Kieselsteine in das schwarze Wasser der Spree warf. Während meine Mutter mich weiterzog, war ich den Steinchen mit den Augen bis unter die Wasseroberfläche gefolgt und hatte gesehen, wie es in der Tiefe plötzlich blau schimmerte und eine Gestalt vorbeischwamm. „Eine Nixe! Eine Nixe!“, hatte ich
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