Flatline
ahnte, dass die Grippe nicht der Grund für seine Traurigkeit war.
»Wo ist Mutter eigentlich?«
Gunther Trempe lachte kurz und spöttisch. Joshua schien zielsicher den wunden Punkt getroffen zu haben.
»In der Scheune. Sie streicht die Wände. Der Heizungsmonteur war gestern hier, nächste Woche kommen die Fliesenleger.«
Joshua legte die Stirn in Falten. Er konnte sich den plötzlichen Aktionismus seiner Mutter nicht erklären.
»Der Speicher bietet ihr zu wenig Raum und Tageslicht. Ein Künstler braucht die Sonne, sagt sie. Nun will sie in der alten Scheune ein Atelier einrichten, sich selbst verwirklichen.«
Sein Vater sprach in einem Tonfall, als sei es etwas Unanständiges. Kurz vor der Hochzeit hatte seine Mutter ihr Kunststudium aufgegeben. Sein Vater war der Ansicht gewesen, Kunst sei nicht dazu geeignet, eine Familie zu ernähren. Da sie Kinder wollten, die nicht alleine aufwachsen sollten, durfte es nur einen Ernährer geben. Dies hatte, nach alter Väter Sitte, der Mann zu sein.
»Mensch, da hat Janine ihr vielleicht einen Floh ins Ohr gesetzt.«
Joshua stutzte. Wollte er Janine dafür verantwortlich machen?
»Sie hat doch nur gesagt, dass ihr Mutters Bilder gefallen.«
Am letzten Weihnachtstag hatte seine Mutter auf Drängen von Janine alte Bilder vom Speicher geholt, die sie gemalt hatte. Janine war außer sich vor Freude gewesen. Ein stilisierter Kugelstoßer hing seitdem bei ihnen im Wohnzimmer.
»Ja, und damit hat es angefangen. Seitdem bekomme ich sie nur noch bei den Mahlzeiten zu Gesicht. Im Sommer möchte sie eine Ausstellung in der Scheune machen.«
Joshua musste sich ein Grinsen verkneifen. Innerlich freute er sich für seine Mutter. Sie hatte sich nie beschwert, aber jeder wusste, wie sehr sie sich ein eigenes Atelier wünschte. Seinem Vater waren Umstellungen immer schon schwer gefallen, aber letztlich meisterte er sie. Joshuas Blick fiel auf einen großen Stapel Akten auf dem Sideboard. Er wusste sofort, um was es sich handelte. Süffisant grinste er seinen Vater mit einem Fingerzeig auf den Aktenstapel an.
»Immer noch kein Hinweis?«
Gunther Trempe schürzte die Lippen. Seine Augen funkelten ihn an.
»Nein. Beruhige dich, nächste Woche schmeiße ich alles weg.«
»Ist es schon so weit?«
»Am Samstag sind die zwanzig Jahre um.«
Sein Vater sprach emotionslos. Joshua wusste aber, wie sehr es ihn mitnahm. Es war der letzte Fall in seiner Zeit als leitender Ermittler des Dezernates Kapitalverbrechen gewesen. Gunther Trempe und seine Kollegen hatten über Jahre die höchste Aufklärungsquote des Landes gehabt. Es sollte der einzige Fall werden, den sein Vater nicht aufklären konnte. Diese Tatsache und vor allem die Vorgehensweise des Täters nagten beständig an seiner Seele. Der Täter hatte vom Keller eines Nachbarhauses vermutlich in wochenlanger, mühseliger Arbeit einen Tunnel bis exakt unter den Tresorraum der Bank gegraben. Während der Nacht hatte er fast zwei Millionen D-Mark aus den Regalen geräumt. Der Tresorraum war absolut leer. Fast leer. Auf dem kleinen Edelstahltisch in der Mitte ließ der Täter einen Prospekt der Bank zurück.
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Obwohl der Täter sich nicht die geringste Mühe gemacht hatte, Spuren zu vermeiden, jagten sie ihn vergebens. Selbst ein mit Hilfe von zwei Zeugen angefertigtes Phantombild hatte nicht weitergeholfen. Wochenlang war die Polizei von den Medien verhöhnt worden. Als sein Vater pensioniert worden war, hatte er sich Kopien von allen den Fall betreffenden Akten mit nach Hause genommen. Immer wieder hatte er nach dem entscheidenden Fehler in der Ermittlungsarbeit gesucht. Es war wie eine Manie. In wenigen Tagen würde die Tat verjähren. Joshua fragte sich, ob sein Vater dann vergessen könnte.
»Wie geht es eigentlich Jack?«
Joshua hatte schon mit diesem Ablenkungsmanöver gerechnet. Seinem Vater kam es einer persönlichen Niederlage gleich, über die er nicht reden wollte. Er wusste, Joshua würde es nicht verstehen.
»Die Ärzte meinen, er hat sich in Thailand einen Virus eingefangen. Sie haben ihn in die Uniklinik verlegt.«
Die Sorge um seinen Freund und Kollegen Joachim Holsten kam wieder hoch. Als er aus dem Urlaub kam, ging es ihm von Tag zu Tag schlechter. Hohes Fieber, Magenkrämpfe, beständiger Durchfall. Sein Hausarzt hatte ihn sofort ins Krankenhaus einliefern lassen. Seitdem verschlechterte sich sein Zustand dramatisch, ohne dass die Ärzte einen
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