Wie ich nach Santiago de Compostela ging und ganz woanders ankam
Hallo Wiebke,
wo steckst du schon wieder? Ich hab es satt, nur deinen Anrufbeantworter zu hören — wie fast immer in letzter Zeit! Dabei hab ich dir so viel zu erzählen, und weil heute Abend etwas wirklich Witziges passiert ist, schreib ich dir schnell diese E-Mail.
Max hat mich eben angerufen, kaum guten Tag gesagt, nur: „Rate, was ich in der Hand habe?“, und ich hab natürlich erst mal gefragt, wie es ihm geht und wo er grad ist, schließlich hab ich seit mindestens einer Woche nichts von ihm gehört. Als er sagte, „in Rabanal, aber nun rate endlich“, hat es bei mir gefunkt: Stell dir vor, er hat tatsächlich meine Zigarettendose! Die alte, mit einer Haarnadel reparierte Blechbüchse, die ich so liebe und seit 20 oder 30 Jahren mit mir rumschleppe!! 47 Tage nachdem ich sie in einer namenlosen Kneipe in einem Minidorf irgendwo in der Wildnis 2200 Kilometer von hier liegen ließ, hat er sie dort wiedergefunden! Und ich wusste nicht mal wie der Ort heißt, nur dass er ein bis zwei Stunden zu Fuß hinter Astorga liegt. Er ist wohl einfach in die erste geöffnete Bar, und das war zufällig die richtige, und der Barmensch hatte die Dose beiseite gelegt und ihn nur gefragt, was da drin ist! Ist das nicht irre?
Aber das fügt sich eigentlich nahtlos an diese ganze verrückte Geschichte, an das, was ich auf meiner Reise erlebt hab, und passt dazu, dass Max jetzt unterwegs ist; ,Herr, Unabkömmlich’ der nie spontan ein langes Wochenende frei nehmen konnte — jetzt hat er sechs Wochen Auszeit. Von einer Stunde zur anderen hat er sich entschieden, plötzlich ging’s, und er ist acht Tage nach meiner Rückkehr losgefahren. Im November!! Und wandert jetzt auf meinen Wegen und versucht zu verstehen, warum mein siebenwöchiger Pilgerweg mich so sehr verändert hat, dass er mich trotz zwanzigjähriger Beziehung nicht mehr erkennen konnte.
Ach Wiebkeschatz, vielleicht sollte ich dir die ganze Geschichte einfach schreiben, ich fürchte wir werden nie genug Zeit haben, um dir alles zu erzählen.
Kannst du dich an unsere Gespräche vor zwei Jahren über den Jakobsweg erinnern? Als ich Paolo Coelhos Buch gelesen hatte und davon so begeistert war, dass ich am liebsten gleich losgegangen wäre, mir sogar schon einen Wanderführer gekauft hatte und alle abwimmelte, die mitwollten? Ich wollte niemanden mithaben. Damals. Aber als ich in diesem August nach meinem Radunfall wieder laufen konnte, mich aus irgendeiner Eingebung heraus entschloss loszuwandern, vom Arbeitsamt Urlaub bekam, und dann Max erzählte, dass ich jetzt gehen würde, war mir doch mulmig. Ganz allein los — nee, wenigstens den Anfang wollte ich mit jemand zusammen gehen. Da fiel mir Maja ein. Du kennst sie von meinen Geburtstagen, meine alte Bioenergetikgenossin. Ihr sollte ich Bescheid sagen, wenn ich mich irgendwann entschließe — sie traut sich auch nicht allein. Mit ihr konnte ich mir die Wanderung gut vorstellen. Sie hat auch nur kurz gezögert, schon eine Woche später haben wir unsere gemeinsame Fahrkarte gekauft. „Und wenn wir uns trennen?“, hab ich gefragt, und sie hat geantwortet „Wir trennen uns nicht“.
Dann bin ich Probe gewandert, ums Dorf und durch den Wald, zwei bis drei Stunden täglich, mit Thommys Rucksack und meinen alten Walkingschuhen. Hab jeden Tag meine Füße gecremt, tausend Tipps gehört und mir von Rasmus Mut machen lassen „— wenn du es nicht probierst, weißt du nicht ob’s geht“ — hatte noch die eine oder andere schlaflose Nacht, und dann sind wir los.
Aufbruch
Hamburg — St.-Jean-Pied-de-Port — Huntto > 1725 km
Du weißt, dass ich Abschiede hasse.
Unser Zug fährt erst um 22.41 Uhr, das bedeutet entweder einen langen, wehmütigen Abend oder — besser — Party. In einer urigen Kneipe am Bahnhof, mit Mann und Kindern, fröhlich, laut und wunderschön.
Aufgeregt präsentieren Maja und ich unsere Rucksäcke und diskutieren die Ausrüstung: „... meinst Du, dass ich den Becher brauche oder soll ich ihn hier lassen?“, verstauen Geschenke und Briefe für unterwegs: „... aber lies das bitte erst im Zug“, lachen, futtern, überspielen unsere Anspannung. Timpe hält eine Abschiedsrede und überreicht mir verschwörerisch ein rosiges, zahnpastatubengroßes Etwas. Ein Plastikschwein. „Mama, das ist Oinki, das rotierende Familienreiseglücksschwein. Es wird Dich unterwegs beschützen, nimm es bitte mit, es wiegt auch nur 25 Gramm.“ Wie lieb! Ich weiß, dass er mich nicht dafür verspottet, weil
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