Zuckermond
Kapitel 1
Helena Denhoven bugsierte den unförmigen Rahmen, über den eine Leinwand gespannt war, aus ihrem Wagen, schnappte sich ihre Handtasche und fluchte leise. Das morgendliche Telefonat mit ihrem Vater hatte ihr gründlich die Laune verdorben und sie bezweifelte, dass sich heute noch etwas daran ändern würde. Immer noch fluchend betrat sie das kleine, gemütliche Atelier, welches sie sich mit ihrer Freundin Sabina teilte und stürmte grußlos, und mit überaus grimmigem Gesichtsausdruck, an ihrer fassungslosen Freundin vorbei.
„Hey, was soll das denn?“ Sabina, eine erfolgreiche Künstlerin, die ihre Kindergeschichten auf liebevolle Art und Weise selbst illustrierte, lief ihr kopfschüttelnd hinterher.
Vorwurfsvoll stemmte sie ihre Hände in die Hüften. „Ich will dir ja nicht zu nahe treten, aber mal ganz im Ernst: Es ist alles andere als nett von dir wie ein Racheengel an mir vorbeizurauschen, ohne mich auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.“
Helena seufzte tief auf und ihre schönen grauen Augen füllten sich mit Tränen, während ihre sanft geschwungenen Lippen zu beben begannen. „Es tut mir Leid. Aber ich war kurz vorm Explodieren und konnte in dem Moment nicht anders. Verzeihst du mir?“ „Klar, verzeihe ich dir! Was ist passiert?“ Sabinas mitfühlender Blick ruhte auf der Freundin, die mit zitternden Händen ihr Bild auf die Staffelei hievte und krampfhaft versuchte, ihre Tränen zurückzuhalten. „Ich mach uns erst einmal einen Kaffee und dann erzählst du mir, was los ist, okay?“ Dankbar nickte Helena und zauberte sogar ein winziges Lächeln auf ihre Lippen. Zwar unter Tränen, aber immerhin. Kurze Zeit später nahm sie die dampfende Tasse entgegen. „So und nun erzähl mir, was los ist. Welche Laus ist dir über deine entzückende Leber gelaufen? Sobald ich es weiß, werde ich ihr den Garaus machen.“ „Glaub mir, ich wünschte, es wäre lediglich eine Laus, denn gegen Ungeziefer wüsste ich mich zu wehren. Aber es sind mal wieder meine über alles erhabenen Eltern, die mir das Leben zur Hölle machen. Sie setzen mir zu. Und wie! Und das Schlimme ist, dass sie wirklich und tatsächlich die Gabe haben, mit jedem Mal energischer zu werden, während ich mich von Mal zu Mal mehr in die Enge getrieben fühle. Ich komme mir langsam aber sicher vor wie eine zappelnde Fliege, die im Netz einer Spinne gefangen ist und es einfach nicht schafft, sich zu befreien. Da kann die Fliege noch so viel zappeln und wüten – alle Befreiungsversuche bleiben erfolglos. Denn die Spinne und das Netz sind wesentlich stärker und auch mächtiger.“ Helena schlug ihre Hände vors Gesicht. „Langsam aber sicher glaube ich, die ganze Welt hat sich gegen mich verschworen.“ „Hey, hey. Vergiss nicht, ich bin auch noch da. Ebenso wie Kathrin. Wir sind immer für dich da und gehören mit Sicherheit nicht zu den Leuten, die sich jemals gegen dich verschwören würden.“ Helenas Züge wurden weich. „Ich weiß, und ehrlich gesagt wüsste ich auch gar nicht, was ich ohne euch tun würde. Ach, Sabina. Ich bin so verzweifelt und habe Angst, unter dem Druck meiner Eltern zu zerbrechen.“ „Du bist ein zerbrechlicher, sensibler und sehr emotionaler Mensch, keine Frage. Aber unter der ganzen Zerbrechlichkeit steckten auch eine enorme Stärke und Willenskraft. Sonst hättest du es mit Sicherheit nicht geschafft, dich zumindest schon einmal so weit von deinen Eltern zu befreien wie bisher.“ „Was habe ich diesbezüglich denn schon großartig geschafft? Du siehst doch, ein Telefonat und meine Welt gerät aus den Fugen.“ „Süße, trotz aller Widerstände bist du dem Gut deiner Eltern entflohen und hast dir eine eigene Wohnung gesucht. Ganz zu schweigen davon, dass du, obwohl deine Eltern strikt dagegen waren, beruflich den Weg eingeschlagen hast, den du wolltest. Und nicht den, den deine Eltern für dich vorgesehen hatten.“ Helena lachte bitter auf. „Und genau das bekomme ich nun täglich vorgeworfen. Denhoven sei nicht bloß ein Name. Er bedeute Verantwortung. Und dieser Verantwortung habe ich mich diesbezüglich – aus der Sicht meiner Eltern – schmählich entzogen. Deshalb verlangen sie von mir, ihnen nicht ganz das Herz zu brechen, sondern wenigstens in naher Zukunft zu heiraten und Kinder zu bekommen.“ „Na denen würde ich was flüstern. Mit mir könnten sie nicht so umspringen, wenn es meine Eltern wären, was sie ja – dem Himmel sei Dank – nicht sind. Sie drängen dich also
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