Flesh Gothic (German Edition)
ging ihm nicht um Idealismus, sondern kam von Herzen.
Willis blieb etwa fünf Jahre dort und seine »Gabe« wurde – wie bei so vielen anderen mit parapsychologischen Fähigkeiten – zu einem Fluch. Bis zum Abschluss des Medizinstudiums hatte er sie kaum wahrgenommen – diese Art von übersinnlicher Begabung erreichte in der Regel erst um das 30. Lebensjahr herum ihren Höhepunkt. Bemerkt hatte er sie allerdings schon früher, wenn er im College oder während des Medizinstudiums mit Frauen zusammen war. Berührungen. Direkter Hautkontakt. Sex verdreifachte die Intensität dessen, was er als »Rückstrom« bezeichnete; und da Sex die intimste Art von direktem Hautkontakt darstellte, kam Willis’ Liebesleben nie über die erste Nacht mit einer Frau hinaus. Es gab immer irgendetwas – ein schreckliches oder dunkles Geheimnis –, das aus ihrem Kopf in seinen strömte. Willis fühlte sich wirklich wie ein Verfluchter.
Trotzdem habe ich es geschafft, oder?, überlegte er, während der Bus über den Highway rumpelte.
Mit 30 fand er sich damit ab, dass er vermutlich nie in der Lage sein würde, eine intime Beziehung mit einem anderen Menschen einzugehen. Zur sexuellen Befriedigung setzte er auf die gute alte Handarbeit. Sich damit abzufinden, war nicht ganz einfach, denn nach gängigen Maßstäben war er ein überaus attraktiver Kerl. In der Klinik hatte er sich den Spitznamen »Dr. Schnuckel« eingefangen. Aber egal – er besaß ein gesundes Maß an Entschlossenheit, hatte seine Ideale und wusste, dass er einer Menge Menschen wirklich geholfen hatte, bevor man ihm seine Zulassung wegnahm.
Denk jetzt einfach nicht darüber nach, seufzte er innerlich. Auch über die vertrackte Geschichte, auf die er sich gerade einließ, grübelte man besser nicht zu sehr. Von Vivica Hildreth hatte er zwar nie zuvor gehört, dafür jedoch umso mehr vom »Unterhaltungsbetrieb« ihres Ehemanns, T&T Enterprises. In dem Brief, der zusammen mit dem Paket eingetroffen war, stand: Bei dem Schmuckstück in dieser Schachtel handelt es sich um ein Armband, das einer Frau namens Jane Scharr gehörte. Ihr Künstlername als Pornostar lautete Janey Jism . Ein fast schon unheimlicher Zufall, denn die Filme von Miss Scharr hatten Willis schon einige überaus befriedigende Abende verschafft. Das Schreiben ging weiter: Bitte ziehen Sie in Erwägung, Ihre Fähigkeiten bei diesem Armband einzusetzen. Falls Sie sich dazu entschließen sollten, die Gesamtheit der fraglichen Nacht zusammen mit anderen Experten auf ihrem Gebiet eingehender zu untersuchen, zahle ich Ihnen das Zehnfache des beigelegten Vorschusses. Setzen Sie sich mit meinem Büro in Verbindung, falls Sie Interesse haben. Meine Mitarbeiter werden dann Anreise und Unterbringung organisieren. Den Vorschuss können Sie unabhängig von Ihrer Entscheidung in jedem Fall behalten.
Mit freundlichen Grüßen
Vivica Hildreth
»Mann«, murmelte er, als er darüber nachdachte. Willis’ sogenanntes Büro konnte man nicht gerade als Gelddruckmaschine bezeichnen. Vielmehr konnte er von Glück reden, wenn er es mal auf 20.000 im Jahr brachte. Allein Vivica Hildreths Vorschuss belief sich auf stolze 10.000 Dollar.
Was konnte er schon tun? Er brauchte das Geld.
Willis schüttelte das kleine Expresspaket und hörte, wie die Glieder des zierlichen Armbands leise gegeneinanderklirrten. Er überlegte, ob er es erneut aus dem Samtbeutel holen sollte – nur um es noch einmal anzusehen –, verwarf die Idee jedoch und spähte lediglich hinein. Es handelte sich um einen hübschen Silberschmuck mit winzigen Amethysten. Ein Experte für Kristalle würde sicherlich beteuern, dass Amethyst und Silber den Träger vor Bösem schützten. Hat bei ihr eindeutig nicht geklappt, dachte Willis. Jane Scharr hatte das Armband vor gar nichts geschützt.
Als er es an dem Tag, als das Päckchen in seiner armseligen Wohnung in Los Angeles eintraf, zum ersten Mal in die Hand nahm, wäre er beinahe zu Boden gesackt. Bildfragmente muskulöser Männer, deren nackte Körper vor Schweiß glänzten, waren vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Seelenruhig schlitzten sie die Kehlen mehrerer Frauen auf und fingen anschließend ihr Blut in Eimern auf. Kerzen flackerten, während eine Orgie ablief. Dann schlug ein großer, schlanker und irgendwie bedeutend aussehender Mann mit einer Axt auf die Teilnehmer der sexuellen Ausschweifungen ein. Mit einem Hieb nach dem anderen vergrub er das Blatt in Rücken, Köpfen und Genitalien. Und dort,
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