Fliehkräfte (German Edition)
wie die beiden einen Blick tauschen. Er trinkt sein Wasser, versucht Boden unter die Füße zu bekommen und wäre am liebsten für einen Moment allein. Der Zwischenfall mit der aufdringlichen Spendensammlerin sitzt ihm immer noch in den Knochen. Er kann seinen eigenen Schweiß riechen und hat darauf geachtet, Abstand zu wahren zu den jungen Leuten, die ihm in der letzten Stunde vorgestellt wurden. Einige sind kaum älter als Philippa. Der Umgangston ist frei von akademischer Selbstgefälligkeit und verkrampfter Bildungshuberei, stattdessen ironisch, flott und – lieb, hat er gedacht und nicht gewusst, warum das zu seinem Unbehagen beitrug. Insgeheim hofft er darauf, dass jemand den Arm hebt und die Inszenierung beendet. Seit er die Verlagsräume betreten hat, kommt er nicht heraus aus der Rolle des zögerlichen Griesgrams, der hinter jeder Freundlichkeit Kalkül vermutet und selbst für dieses sonnige Büro keine Worte der Anerkennung findet. Der Geruch von Menthol-Zigaretten und einem herben Parfüm bleibt zurück, als Nora Velasquez den Raum verlässt.
»Übrigens weiß Maria nicht, dass ich heute hier bin«, sagtHartmut. »Und solange ich mich nicht entschieden habe, muss sie das auch nicht.« Der Espresso ist stark und bitter und schmeckt genau richtig. Hier sitzt er und redet von Entscheidung, als würde er tatsächlich daran denken, den Schritt zu tun.
»Verstehe.«
»Bin ich ihretwegen hier?«
»Fragst du mich das?« Die Angewohnheit, seine Augenbrauen beim Sprechen nach oben zu ziehen, gibt Peters Rede einen affektierten Einschlag, und jedes Mal denkt Hartmut, dass er gerne mit der Assistentin unter vier Augen sprechen und sie fragen würde, wie Peter Karow so ist. Als Mensch. Was er natürlich auch Maria fragen könnte, aber die würde sofort wissen, was er meint, und missbilligend den Kopf schütteln.
»Ich meinte von deiner Seite. Machst du mir dieses Angebot ihr zuliebe?«
»Ich bin Geschäftsmann, Hartmut. Du weißt, wie sehr ich deine Frau mag, aber das sind zwei Dinge, die ich trenne. Trennen muss.«
»Wie kommst du dann auf mich? Ich hab keine Erfahrung im Verlagsgeschäft.«
»Erfahrung haben wir selbst, wir brauchen dich für die Inhalte.« Peter sieht auf die Uhr und atmet kurz durch, als stemme er sich gegen seine wachsende Resignation. »Also noch mal von vorne. Wir sind ein Fachverlag mit hervorragendem Ruf in einem bestimmten Marktsegment. Kulturwissenschaften, Gender Studies, Medientheorie, Design und so weiter. Wir sind preisgünstig, zuverlässig, ein bisschen schick, ein bisschen anders. Autoren kommen von sich aus zu uns, in immer größerer Zahl. Mit einem Wort: Wir sind im deutschen Verlagswesen eine der Erfolgsgeschichten der letzten Jahre. Okay?« Peter hat sich vom Türrahmen gelöst und tritt vor die linke Bücherwand, als wären dort die neuesten Umsatzzahlen von Karow & Krieger zu sehen, hübsch aufgeteilt in die Segmente des akademischen Dernier Cri. »Jetzt wollen wir unser Profil erweitern. Rein in die klassischen Geisteswissenschaften, wo wir noch keinen Ruf haben. Also suchen wir nach Verstärkung, deine Expertise, deine Kontakte, dich. Wir wollen nicht die tausendste Platon-Exegese, sondern neue Ansätze. Was in der Philosophie spannend ist, soll bei uns passieren. Reicht dir das? Ich kann endlos weiterreden, Hartmut, das ist mein Job. Ich kann aber auch sagen, dass ich dich mag und keine Lust mehr habe, der älteste Mitarbeiter meines Verlags zu sein. Such dir was aus.« Mit den Augen fügt er hinzu: Aber tu es bald.
»Ich hab ein bisschen Angst um meine Freiheiten.«
»Was soll ich dir sagen? Wir haben ein Programm und ein Verlagsprofil, zu uns passt nicht alles. Die inhaltliche Ausrichtung wird abgesprochen, ansonsten bist du frei. Mit Sicherheit freier als an der Uni.«
»Die letzte Entscheidung liegt bei dir, nehme ich an.«
»Du wirst sehen, dass ich kein Problem damit habe, der fachlichen Kompetenz meiner Mitarbeiter zu vertrauen. Ich weiß, was du aufgibst.«
Woher denn, denkt Hartmut und hört im Nachbarzimmer das Telefon klingeln. Die Wände scheinen ziemlich dünn zu sein. Sein Blick fällt auf ein neongelbes Buchcover mit dem Titel Sieh! Mich! An!
»Und wenn das Experiment scheitert?«, fragt er.
Peter ist zurückgekehrt zu seinem Platz neben der Tür und sagt ohne eine Spur von Koketterie: »Scheitern ist nicht mein Stil. Nicht mehr.«
»Nicht dein Stil, hm.« Das Bild ihres ersten Zusammentreffens steht ihm vor Augen: der Abschied auf einem
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