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Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
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Passanten und warten auf ein Gesicht, das nach wenig Widerstand aussieht. Am Morgen war Hartmut spät dran, weil Maria überraschend erklärt hatte, erst um halb elf im Theater sein zu müssen. Hinter ihnen lag einer der besseren Kurzbesuche, auf die sich ihre Ehe seit zwei Jahren reduziert. Im Deutschen Theater hatten sie Hedda Gabler in einer Inszenierung gesehen, die seinen Geschmack eher traf als Marias, und waren sich hinterher trotzdem einig in ihrem Urteil. Wie immer in der Wohnung seiner Frau hat er schlecht geschlafen, morgens lange geduscht und beim Frühstück versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Draußen strahlte ein verheißungsvoll sonniger Himmel. Nach zwanzig Jahren Ehe frühstücken sie an einem Tisch, auf den keine ausgebreitete Zeitung passen würde. Marias stilles Lächeln verriet, dass seine Angespanntheit ihr nicht entging. Um kurz vor elf kam Hartmut am Hackeschen Markt an, lief bei Rot über die Straße und der jungen Frau direkt in die Arme. Sie hielt ein Clipboard mit Beitrittsformularen in der einen Hand, einen Flyer in der anderen und trug im Gesicht den Zweckoptimismus der nebenberuflichen Samariterin. Rötliche Allergieflecken umrahmten die Augen. Hartmut wollte ihrem Blick ausweichen, aber es war zu spät, sie hatte ihn auserkoren. Er wusste sofort, dass das schiefgeht.
    »Sie möchten das Richtige tun, das sehe ich.«
    »Ich möchte zu einem Termin«, sagte er und spürte sein Lächeln einfrieren, als er den Schritt verlangsamte, ohne anzuhalten. Warum pickte sie aus dem breiten Strom von Passanten ausgerechnet ihn heraus? Sah er aus wie jemand, der sich schnell überreden ließ? Beinahe hätte er sie danach gefragt, aber er wollte in der Vorwärtsbewegung bleiben, sich nicht einfangen lassen von dieser Wegelagerei des guten Zwecks. Ein wichtiges Gespräch stand ihm bevor, er musste sich konzentrieren.
    »Das hier könnte sehr schnell gehen.« Links und rechtsdrängten Leute vorbei, machten unwirsche Handbewegungen, als ließe das Elend der Dritten Welt sich wie ein Insekt verscheuchen, und Hartmut saß in der Falle. Gefangen zwischen der jungen Frau und einem mit Aufklebern zugekleisterten Stromkasten. Nach vorne versperrten Fahrradständer den Weg, idiotisch postiert auf dem ohnehin engen Trottoir. ›Für eine gerechte Welt. Ohne Armut.‹ So stand es grün auf weiß auf ihrem T-Shirt.
    »Ich nehm so ein Formular mit, okay?«
    »Oxfam ist eine unabhängige Entwicklungs- und Hilfsorganisation, die sich für eine gerechte Welt ohne Armut einsetzt. Wir betreiben Nothilfe in Krisenregionen und decken die der Armut zugrundeliegenden Strukturen auf.« Sie hatte weiße Speichelrückstände in den Mundwinkeln und einen manischen Sprachduktus, der Hartmuts Widerwillen verstärkte. »Es geht um nachhaltige Erwerbsgrundlagen, Gesundheit, Umweltschutz und Bildung. Dafür kooperieren wir mit über dreitausend Partnern in derzeit neunundneunzig Ländern.«
    Sobald er einen Schritt nach vorne machte, bewegte sie sich rückwärts, immer direkt vor ihm, so dass er sie hätte umrennen müssen, um zu entkommen. Oder über vier angekettete Fahrräder springen.
    »Wollen Sie Mitglied werden?« Offenbar dachte sie, sie hätte ihn schon so weit.
    »Jetzt nicht. Jetzt will ich zu meinem Termin.«
    »Armut und Rückständigkeit sind vermeidbar. Es geht nicht um Almosen, sondern um die nachhaltige Veränderung ungerechter Strukturen. Sie können Ihren Beitrag leisten. Drei Viertel unseres Budgets gehen direkt in Projekte und Kampagnen.«
    Er nickte ergeben und griff nach seinem Portemonnaie. Ihr Lächeln war ihm nicht unsympathisch, nur diese Allergieflecken zogen seinen Blick gleichzeitig an und stießen ihn ab. Wir stehen auf derselben Seite, wollte er sagen. Irgendwas in der Art und dann weg.
    »Wir dürfen kein Geld nehmen. Ich hab hier dieses Formular, und Sie können selbst entscheiden, welche Form der Mitgliedschaft ...«
    »Hören Sie ...« Ich finde das wirklich gut, was Sie machen. Was fällt Ihnen ein, mich so zu überfallen? Er konnte sich nicht für einen Satz entscheiden, drehte sein Gesicht aus ihrem erwartungsvollen Blick und suchte im Strom der Passanten nach einer Lücke. Ihm stand ein wichtiges Gespräch bevor, und er war spät dran! Mit einem genervten »Ja, ja, ja« rauschte ein junger Mann an ihnen vorbei, und in seinem Windschatten machte Hartmut zwei Schritte nach rechts. Wäre beinahe über eine Hundeleine gestolpert, stieß gegen jemandes Schulter und glaubte, es geschafft zu

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