0276 - Die Phantome vom Gespenster-Kreuz
Zwölfmal schlug der Klöppel gegen die alte Glocke. Es waren sanfte Schläge, dennoch trug die laue Luft der Sommernacht den Klang weit hinaus über das Land.
Allmählich nur verebbte der Klang. Irgendwo aus der Ferne war noch sein Echo zu hören, dann kehrte Ruhe ein.
Eine mitternächtliche Ruhe. Die Menschen, die jetzt noch wach in ihren Häusern hockten, wussten, dass die Tageswende angebrochen war.
Zwölf Uhr. Geisterstunde sagten viele dazu, verkrochen sich unter ihre Decke und warteten darauf, dass sie vorbeiging, ohne dass irgend etwas geschah.
Der alte Aberglaube saß tief. Er war gerade in der ländlichen Gegend nicht so rasch zu bannen, doch die nachwachsende Generation lachte darüber.
Die Jungen und Mädchen machten sich einen Spaß daraus, ihre Eltern oder Großeltern aufzuziehen, wenn diese die alten, furchtbaren Geschichten erzählten, die von wilden Kämpfen, Tod und Vernichtung handelten.
»Seht das steinerne Kreuz!« hieß es immer wieder. »Es ist nicht umsonst gebaut worden und soll ein Mahnmal für die nachfolgenden Generationen sein.«
Um das Kreuz drehte sich im Augenblick alles, was der siebzehnjährige Uwe Saalfrank empfand.
Genau um Mitternacht kletterte er den kleinen Hügel hoch, um das Kreuz zu erreichen. Sein Rad hatte er auf einem schmalen Pfad abgestellt. Dieser Pfad mündete auf die Straße, die den Ort Selb mit einem Nachbardorf verband.
Der Hügel zog sich doch sehr in die Höhe. Uwe war ein wenig außer Atem, als er auf der Kuppe stehen blieb.
Sein Blick glitt nach vorn. Dort war es. Das steinerne Kreuz!
Ein wenig seltsam war ihm schon zumute, als er es anschaute. So aus der Nähe hatte er es noch nie gesehen, und er wunderte sich über die Größe.
Mit einer fahrigen Bewegung strich er sein schwarzes Haar zurück und bemerkte die leichte Gänsehaut, die sich auf seinem Rücken ausbreitete.
Das war ihm noch nie passiert. Aber er gab ehrlich zu, dass diese Gegend doch etwas Unheimliches an sich hatte. Es war das Kreuz, dessen Stein so dunkel schimmerte. Selbst das Mondlicht schaffte es kaum, diesen Gegenstand stärker auszuleuchten. Das Denkmal stand auf einem breiten Sockel, der sich aus drei Größen zusammensetzte.
Der unterste Quader war am breitesten und etwa kniehoch, auf dem der zweite Teil des Sockels stand. Ebenfalls ein Quadrat, von der Grundfläche her schmaler und auch von der Höhe nicht so wie der erste. Es folgte der dritte Stein. Er war am kleinsten, und aus ihm wuchs der gewaltige, zugeschnittene, lange Stein in die Höhe, der im oberen Drittel den waagerecht verlaufenden Balken besaß.
Hinter dem Kreuz stand der Mond. Die breiten Steinbalken deckten ihn fast ab, so dass, wenn Uwe hinschaute, nur ein Ausschnitt von ihm zu sehen war.
Uwe Saalfrank wusste genau, welche Legenden sich um das steinerne Kreuz von Selb rankten. Er hatte nie daran geglaubt, die Großeltern immer ausgelacht, aber ein Rest war doch zurückgeblieben.
Ihn konnte auch er nicht verscheuchen.
Dabei war alles nur ein Spiel. Eine Mutprobe hatte es sein sollen. Um in eine bestimmte Clique aufgenommen zu werden, sollte Uwe zwischen Mittemacht und ein Uhr auf das Kreuz klettern und an seine Spitze eine Fahne mit einem Totenkopf binden. Der Stoff war pechschwarz. Hellgelb leuchtete der Schädel.
Noch steckte die Fahne zusammengerollt in seiner Hosentasche, und noch hatte er Zeit, den Rückweg anzutreten. Zwei Seelen kämpften in seiner Brust.
Einerseits war dieses seltsame Gefühl vorhanden, zum anderen wollte er auch nicht feige sein, denn die Mitglieder der Clique hätten ihn nur ausgelacht.
Wie er sich auch entschied, bei jeder Möglichkeit hatte er das Gefühl, das Falsche zu tun. Man sagte dem Kreuz nach, dass unter ihm im Hügel der Geist eines grausamen schwedischen Obersten herumspuken sollte und in klaren Nächten die Erde verließ, um Menschen aufzulauern und sie zu töten.
Auch hatten einsame Wanderer manchmal das Klirren von Waffen gehört. Zudem Todesschreie sterbender Menschen, wobei sich die Schlachten, die in den Jahren 1632 und 1633 getobt hatten, auf eine gespenstische Art und Weise wiederholten.
All das war Sage, Legende, und nicht bewiesen.
Uwe Saalfrank räusperte sich, bevor er einen Schritt nach vorn tat und auf das steinerne Kreuz zuging. Der Boden unter ihm war weich. Rasen dämpfte seine Schritte, so dass er sich dem Monument aus der Vergangenheit lautlos nähern konnte.
Vor dem unteren Teil des Podests blieb er stehen. Er legte den Kopf in den Nacken
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