Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fliehkräfte (German Edition)

Fliehkräfte (German Edition)

Titel: Fliehkräfte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephan Thome
Vom Netzwerk:
lang verharrt er so reglos wie sie, dann wendet er sich ab und geht zur Treppe. Unten zieht er Schuhe und Strümpfe aus und läuft über den grobkörnigen Sand zum Wasser. Hier und da liegen Algen, nass und grünlich glänzend.
    Am anderen Ende des Strandes steht eine Reihe von Holzschuppen, vor denen nackte Glühbirnen leuchten. Leute sitzen dort, eine Ansammlung von Schatten und gedämpften Stimmen. Dann wird der Sand fester und der Meeresgeruch intensiver. Neben einem kleinen Felsbrocken bleibt Hartmut stehen und dreht sich um. Ein einziges Auto steht auf dem Parkplatz, daneben sitzt Maria auf der Bank. Er hebt die Hand und winkt. Nur kurz rein und wieder raus, sagt er sich, zieht seine Hose aus und legt die Brille darauf.
    Im ersten Moment kommt das Wasser ihm eisig vor, aber sobald es seine Knie erreicht, nicht mehr. Nicht kälter als die Luft, eher wärmer. Die Felsen, die er vorher erkennen konnte, sind zu dunklen Schemen geschmolzen. Hartmut macht ein paar Schritte nach vorne, spürt das Wasser an den Oberschenkeln und lässt sich fallen. Es ist angenehmer als erwartet. Kleine Lichter tanzen auf dem Wasser, als wollten sie ihm den Weg weisen. Erleichtert macht er ein paar Armzüge und gleitet durch die Dunkelheit. Erschrickt kurz, weil seine Fußspitze eine harte Kante berührt, dann hat er den letzten Felsen passiert und sieht vor sich nichts als das offene Meer.
    Wolken ziehen über den Mond. Eine in Porto gestartete Maschine dreht blinkend ab Richtung Ozean. Manchmal fahren seine Beine durch eine kalte Strömung, aber wenn er still hält und sich treiben lässt, liegt er wie in einem warmen Bad. Am Nachmittag in der Kathedrale hat er sich schließlich ein Herz gefasst und ist zum Beichtstuhl gegangen. Ein massiver hölzerner Kasten, der aussah wie ein alter Kleiderschrank. Als Hartmut hineinschaute, fiel sein Blick auf einen Eimer, in dem ein abgenutzter Feudel lag. Flaschen mit Reinigungsmitteln standen aufgereiht, wo früher die Gläubigen gekniet hatten. Was immer er zu erfahren gehofft oder befürchtet hatte, löste sich auf in der Banalität des Anblicks. Hartmut musste an sich halten, um nicht in Lachen auszubrechen. Jetzt fragt er sich, was ihn eigentlich getrieben hat. Nicht nur heute und auf dieser Reise, sondern immer schon. Wonach hat er gesucht? Wovor ist er weggelaufen? Worin besteht dieses nicht fassbare, sich ständig wandelnde Etwas, das die Gestalt von Liebe und Ehrgeiz, von Sehnsucht wie von Lust annehmen kann, und das beinahe alles zu können scheint außer einem: aufhören.
    Das Wasser trägt ihn. Weit weg hört er eine Autotür zufallen. Die Küste wird breiter, Hartmut kann bereits die Lichter des nächsten Dorfes erkennen, und sein Staunen hält an. Nach einigen Zügen dreht er sich auf den Rücken, stellt alle Bewegungen ein und folgt der sanften Strömung des Meeres. Vielleicht musste er dreitausend Kilometer fahren nur für diesen Moment. Um einmal in einem anderen Element zu treiben, ohne Ziel und ohne Angst. Endlich, denkt er. Streckt Arme und Beine aus und betrachtet den Mond.
    Die Fliehkräfte ruhen.
    Er schwimmt.

Weitere Kostenlose Bücher