Folge dem weißen Kaninchen
widerlegt, wenn Menschen ohne Körperempfindungen dennoch Gefühle haben. Dieses Problem hat schon James gesehen. Einige Querschnittsgelähmte klagen zwar, dass ihr emotionales Leben nach den Unfällen ärmer geworden sei. Aber das gilt nicht für alle. Ein eindrückliches Gegenbeispiel stellt der Journalist Jean-Dominique Bauby dar, ehemals Chefredakteur der französischen Zeitschrift
Elle
, der nach einem Schlaganfall am
Locked-In-Syndrom
litt. Bis auf sein linkes Augenlid konnte er seinen Körper nicht mehr bewegen. Daher musste er lernen, nur durch Blinzeln Buchstaben aus einer Reihe auszuwählen, die ihm seine Therapeutin hinhielt. Die Buchstaben waren nach Häufigkeit geordnet. Einmal blinzeln hieß «ja», zweimal «nein». Seite für Seite diktierte Bauby so das Buch
Schmetterling und Taucherglocke
, das der amerikanische Regisseur Julian Schnabel im Jahr 2007 verfilmt hat. In dem Buch spricht Bauby über sein Leben vor und nach dem Schlaganfall. Und über sein fast gänzlich ausgelöschtes Körpergefühl: Er spürt nichts als einen konstanten Druck von Kopf bis Fuß, so als sei er in einer alten Taucherglocke gefangen. Bauby ist todtraurig und doch voller Hoffnung, wieder zu genesen. Er ist stolz, als er sieht, wie sein Sohn und seine Tochter heranwachsen. Das erzählt Bauby mit wenigen Worten, aber doch so eindringlich, dass es einen berührt. Wer die James-Lange-Theorie verteidigen will, müsste behaupten, dass er sich all diese Gefühle nur einbildet, denn er hat ja keine Körperwahrnehmung mehr. Doch das ist schwer vorstellbar. Vor allem: Könnten wir uns überhaupt ein Gefühl einbilden, ohne es auch gleichzeitig zu haben?
Der portugiesisch-amerikanische Neurowissenschaftler Antonio Damasio hat sich von der James-Lange-Theorie inspirieren lassen. Damasio vertritt eine moderne Körpertheorie. Er unterscheidet zwischen
Gefühl
und
Gefühlserleben
. Seine Pointe ist: Gefühle regulieren unser Verhalten, auch wenn wir sie nicht immer bewusst erleben. Das klingt zunächst eigenartig, immerhin steckt im Wort «Gefühl» schon das «Fühlen». Wie kann ein Gefühl nicht gefühlt sein? Passenderweise findet sich im alternativen Ausdruck «Emotion» das lateinische Wort «motio» für «Bewegung» und «Antrieb». Das sagt zwar noch nichts über die Natur der Gefühle, aber Damasio geht es genau um diesen zweiten Aspekt. Er glaubt, dass Gefühle uns auch dann antreiben, wenn wir sie nicht fühlen. Dafür sprechen seiner Meinung nach Experimente der Neurowissenschaft und Psychologie.
Ein Beispiel: Zeigt man Versuchspersonen das Bild einer Spinne für 50 Millisekunden, also nur eine Zwanzigstelsekunde, und gleich darauf das neutrale Bild eines Wohnhauses, so nehmen sie nur das Haus bewusst wahr. Niemand berichtet, dass er eine Spinne gesehen habe. Das zweite Bild «maskiert» das erste, daher heißen diese Versuche
Masking-Experimente
. Dennoch schlägt bei den Versuchspersonen sofort das Herz schneller, und Schweiß bildet sich an den Fingerspitzen: zwei typische Anzeichen für Angst, die fast so deutlich ausfallen, als hätten die Probanden die Spinne bewusst gesehen. Mehr noch: Die Versuchspersonen merken manchmal gar nicht, dass sie sich in diesem unruhigen Zustand befinden. Angst ist Damasio zufolge Teil unseres eingebauten emotionalen Alarmsystems, denn sie bereitet uns aufs Fliehen vor. Dieses System funktioniert auch dann, wenn wir die Alarmglocke gar nicht hören. Es ist, als ob unser Körper für uns reagiert, so, wie wir instinktartig zurückschrecken, wenn etwas großes Dunkles auf uns zukommt.
Damasios Kollege Joseph LeDoux konnte diese These neurologisch belegen: Im Hirn gibt es einen kurzen und einen langen Schaltkreis für Angst. Der kurze Schaltkreis reagiert unmittelbar und ohne unser Bewusstsein, ist aber auch fehleranfällig und löst oft falschen Alarm aus. Die zweite Verbindung läuft über Großhirnareale, die erst spät in der Evolution entstanden sind. Diese langsame Bahn ist zuverlässiger, und sie ist es, die unseren bewussten Urteilen zugrunde liegt. Darüber können wir auch die Informationen der anderen Verbindung stoppen. Wir erschrecken vor der Riesenspinne, merken dann aber, dass es nur ein Scherzartikel aus Gummi ist, und beruhigen uns schnell wieder. Manchmal ist diese bewusste Korrektur allerdings gestört. Menschen mit einer Spinnenphobie beispielsweise fürchten sich auch vor Attrappen, selbst wenn sie wissen, dass diese ungefährlich sind. Der kurze Schaltkreis ist
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