Frau Schick räumt auf
damit! Das Beste kommt ja noch: ihr Wiedersehen mit Frau Schick und den anderen. Nelly freut sich auf jeden Einzelnen, vor allem auch auf Hermann, der über eine weitere Attraktion der Kathedrale von Santiago einen ganz tapferen Scherz über sich und die berühmte Büste des gotischen Steinmetzkünstlers Mateo gemacht hat. Dem gibt der brave Pilger nämlich nach alter Sitte drei Kopfnüsse, um am Genie Mateos teilzuhaben. »Eine Art Nürnberger Trichter«, hat Hermann gesagt, »aber dafür ist es bei mir nun mal zu spät, ich muss mich ans Seelenheil für geistig Arme halten und an meine Martha.« Tapferer, wunderbarer Hermann! Der weiß, wie Liebe geht, und Martha weiß es auch.
Auf was sie so kommt, in ihrem müden Kopf. Und rührselig ist sie auch mal wieder. Nelly schaut sich um. Was sie jetzt braucht, ist ein Filtro. Aber nicht hier mitten im Gewimmel der verkehrsberuhigten Altstadt. Die ist nämlich alles andere als verkehrsberuhigt. Sie schaut auf die Uhr: Viertel nach elf. Das reicht so gerade noch für einen Kaffee, einen Cortado , keinen Filtro.
Nelly arbeitet sich in Richtung eines von nüchternen Geschäftshäusern umringten Platzes vor. Da ist es an einem Sonntag bestimmt ruhiger, und es gibt weniger Gedränge, weil es nicht viel zu gucken gibt.
Oder doch?
Nein, ist das schön! An einer Ecke des neomodernen Platzes steht ein altes Caféhaus. Das ist ja pures 19. Jahrhundert, staunt Nelly. Durch Jugendstilfenster sieht sie geschwungene braune Stühle und Garderobenständer, an denen in Klemmbügeln Zeitungen hängen. Sie erkennt Schachmusterfliesen, genau die gleichen wie in der Bar Hemingway in Pamplona. Der Kaffeetresen und der Barspiegel sehen ebenfalls sehr ähnlich aus. Einfach wunder …
Nellys Herz setzt aus. Ihr Blick trifft den Blick eines Mannes, der in den Spiegel guckt. Sein Blick brennt wie Feuer. Er scheint ganz und gar entflammt zu sein. Für die Frau, die direkt neben ihm sitzt und sich das sehr schöne schwarze Haar aus dem Gesicht streicht, um sich von ihm Feuer geben zu lassen.
Das ist zu viel.
Zu viel und einfach unerträglich. Immer noch, nein immer wieder.
Nelly dreht sich auf dem Absatz um und rennt. Vorbei an einer Stadtmauer, vorbei an alten Klöstern und Konventen. Sie fühlt sich auf dieser nahezu menschenleeren Straße schutzlos; sie will zurück in das Gewimmel der Gassen, abtauchen, unsichtbar sein. Sofort! Wo zum Teufel gibt es hier einen Einlass?
Da, sie findet einen. Schmal und dunkel, es riecht nach Katzen und Müll. Nelly rennt weiter und findet den Ausgang, biegt rechts ab, links, schlägt Dutzende von Haken, und dann steht sie ganz plötzlich auf dem Kathedralplatz. Neben Pilgern beleben Souvenirverkäufer, Touristen, Stadtführer, Einheimische im Sonntagstaat, Mönche auf dem Weg zur Messe, fliegende Händler, Bettler, Musiker, Kinder und Hunde die Plaza del Obradoiro . Trotz der vielen Menschen fühlt Nelly sich noch immer nicht ganz sicher. Zu Recht.
»Nelly!«, ruft es hinter ihr.
Diesmal ist er ihr tatsächlich hinterhergelaufen. Diesmal ist es keine Einbildung wie damals im wilden Gebüsch hinter Javiers Paradies.
Nelly schaut nicht zurück. Stattdessen spurtet sie auf die Doppeltreppe zu, die zum Westportal führt. Hemmungslos drängelt sie sich an brav anstehenden Pilgern vorbei.
Die Glocken schlagen einmal an. Halb zwölf.
Sie schubst und drängelt, arbeitet sich verbissen auf das wohltuende Dunkel des Kirchenschiffs zu, dem die Menge zuströmt. Gleich hat sie es geschafft.
»Nelly!« Jemand packt sie am Ellbogen.
Sie will sich losreißen, hat aber keine Chance. Frau Schick kann, wenn sie will, nämlich noch sehr fest zupacken. »Ganz schön spät, meine Liebe!«, tadelt die alte Dame. »Fast hätten Sie die Sache mit dem Butterfass verpasst.«
»Butterfass?«
»Ja, das wird heute extra für mich geschwenkt.« Schon hat Frau Schick Nelly in die Kirche hineingezogen und schiebt Nelly durch den Mittelgang. »Das mit dem Butterfass wird Bettina Ihnen erklären, die kennt sich mit diesem katholischen Firlefanz aus. Aber die Idee, die hatte Thekla! Ich bin mal gespannt, wer noch alles kommt.«
Sie erreichen einen Stuhlkreis direkt vor dem Altarraum. Er ist mit Seilen abgetrennt. Davon lässt Frau Schick sich allerdings nicht beirren. Nelly starrt und staunt. Auf den Stühlen sitzen lauter Menschen, die sie kennt und liebgewonnen hat.
Hermann sitzt da und betrachtet versunken die Chorschranken. Martha winkt ihr lächelnd zu. Ernst-Theodor nickt
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