Freddy - Fremde Orte - Blick
schon alle bereitgestanden in dem komischen Land, aus dem die Seelen der Kinder kamen, und jetzt mussten sie ziemlich einsam und traurig sein, weil niemand sie abgeholt hatte.
Drei Jahre nach Papas Tod wurde Mama das Sorgerecht erzogen. Sonja hatte sich schon daran gewöhnt, dass die Leute vom Jugendamt bei ihnen aus- und eingingen. Sie rief sie bereits beim Vornamen. Als sie sie Mama wegnahmen, war es wirklich höchste Zeit. Mama hatte sie nie geschlagen, aber sie hatte sich das letzte Jahr praktisch nicht um die Neunjährige gekümmert. Der Einzige, der sich um sie gekümmert hatte, war Freddy gewesen. Ohne Freddy, das wusste sie, würde sie nicht mehr leben. Sie konnte sich nicht vorstellen, auf welche Weise sie gestorben wäre, aber dass sie gestorben wäre, bezweifelte sie nicht.
Freddy war ihr Anker. Genau das und nichts anderes. Ihr Anker in dieser Welt.
Selbst Onkel Werner hatte am Ende die Besuche bei ihnen eingestellt, nachdem seine Bemühungen, Mama zu einer Kur zu überreden, Dutzende Male gescheitert waren. Allerdings musste Sonja nicht in ein Heim. Sie kam zu ihrer Großmutter, der Mutter ihres Vaters, und verbrachte dort triste, aber erträgliche Jahre in einer distanzierten Art von Geborgenheit. Ihre Großmutter war eine stille kleine Frau, die gar nicht erst versuchte, dem Mädchen die Eltern zu ersetzen. In ihrer Vorstellung bestand großelterliche Liebe allein darin, drei Mahlzeiten täglich auf den Tisch zu bringen und die Wäsche zu waschen. Spielen oder Reden konnte man mit ihr nicht, dazu lebte sie zu sehr in ihrer Welt, in der sich alles um die Frage drehte, ob die Wohnung akkurat gesäubert, die Dielen anständig gebohnert und die Kleider ordentlich geflickt und gebügelt waren. Eigentlich empfand Sonja das nie als Problem – sie war ohnehin kein Kind, das besonders gut mit anderen spielen oder reden konnte. Sie beschäftigte sich gerne alleine, genau wie Großmutter. Das Problem war eher, dass Sonja nicht einen einzigen Tag das Gefühl hatte, diese kühle Geborgenheit könne Bestand haben. Sie wartete jeden Augenblick darauf, sie zerbröckeln zu sehen.
Onkel Werner ließ sich mitunter sehen, ein schüchterner, freundlicher junger Mann mit langen Haaren und langem Bart. Großmutter nannte ihn einen Hippie. Sie konnte ihn nur schwer in ihrem Haus dulden, vor allem wegen seines schmutzigen, unfeinen Äußeren, und kaum saß er eine halbe Stunde in ihrem Wohnzimmer, begann sie um ihn herum zu putzen und zu wischen. Das setzte sie unbeirrt fort, bis er sich verabschiedete.
So gab es niemanden, der Sonja aus ihrer Trauer herausgeholt hätte. Jeder Tag ihres Lebens zementierte die Trostlosigkeit als festen Bestandteil ihres Lebens. Umso wichtiger war Freddy, der gute Freddy.
Als sie in die Realschule versetzt wurde, fand sie dort so etwas wie eine Freundin. Miriam. Auch Miriam war ein verschlossenes Mädchen und schien schlimme Dinge erlebt zu haben, aber im Gegensatz zu Sonja hatte sie etwas Kämpferisches an sich. Während Sonja Probleme bewältigte, indem sie Freddy in den Arm nahm (natürlich nur zu Hause, niemals in der Schule), reagierte Miriam auf Schwierigkeiten mit Jähzorn und Verzweiflungsaktionen. Miriam war das, was die Erwachsenen ein schwieriges Kind nannten. Sonja dagegen tat alles, um niemandem aufzufallen. Sie wollte, sie wäre eines dieser normalen Mädchen gewesen mit nervigen Eltern und irgendwelchen mittelmäßigen Hobbys. Sie wollte, sie hätte nur einen Hauch Humor gehabt, eine Messerspitze Verspieltheit. Auch Miriam lachte selten. Nie. Aber Miriam hatte Eltern, einigermaßen nette sogar, wie Sonja fand. Ihre Probleme konnten also nicht familiärer Art sein. Bestimmt litt sie unter einer schlimmen Krankheit. Sonja wagte nicht, danach zu fragen.
„Kannst du mir Freddy mal leihen?“, hatte Miriam sie eines Tages angesprochen. „Nur für eine einzige Nacht. Bitte!“
„Das kann ich nicht“, hatte Sonja spontan geantwortet. Doch dann, als sie spürte, dass Miriam so nervös war wie nie, dass sie gleich explodieren und die Explosion vielleicht sogar ihre schwache kleine Freundschaft zerstören würde, fasste sie eine Entscheidung: Ja, sie würde Freddy verleihen und würde dabei ein Stück erwachsener, stärker werden. Eine Nacht war schnell vorbei, wenn man tief schlief. Es würde sein wie Freddys monatliche Badetage , an denen sie ihn morgens ihrer Großmutter aushändigte, zusah, wie er in der Waschmaschine verschwand, und abends wieder von der Leine nahm, noch
Weitere Kostenlose Bücher