Freddy - Fremde Orte - Blick
feucht.
Freddy war ein Affe, ein Schimpanse der Firma Steiff, mit Knopf im Ohr. Eigentlich behauptete der winzige Papieranhänger, er heiße Jocko, doch Sonja hatte ihn von Anfang an Freddy genannt, und der Anhänger mit dem falschen Namen war nach einigen Monaten heftigen Knuddelns abgerissen. Freddy schaute keck in die Welt hinein, mit einer Neugier und Wissenslust, die sie selbst gerne gehabt hätte.
Sie hatte Miriam erzählt, was Freddy für sie tat, so gesehen war es kein Wunder, dass Miriam ihn ausborgen wollte. Wenn sie tatsächlich schwer krank war, musste man alles Erdenkliche versuchen.
Sie brachte Freddy nicht in die Schule mit. Es wäre zu peinlich gewesen, wenn sie jemand gesehen hätte. Sie übergab ihn Miriam eines Samstags in der Verschwiegenheit des Wäldchens hinter Großmutters Haus, und es war, als reiße sie sich das Herz aus und überreiche es noch heiß, tropfend und schlagend ihrer Freundin.
„Wenn du ihn nicht zurückgibst“, sagte Sonja, „dann werde ich dich überall auf der Welt finden, egal, wo du bist. Ich werde …“
„Schon gut“, unterbrach Miriam sie, und als sie den Affen entgegennahm, liefen ihre Augen über vor Tränen. Behutsam drückte das zwölfjährige Mädchen das Kuscheltier an sich, achtete aber darauf, dass ihre Tränen es nicht benetzten.
In der folgenden Nacht schlief Sonja keinen Augenblick, und natürlich hatte sie insgeheim gewusst, dass es so sein würde. Alles andere wäre eine Frechheit gewesen, Freddy gegenüber. Zu sagen, sie hätte sich in dieser Nacht einsam und allein gefühlt, traf es nicht. Sie fühlte sich, als wäre sie überhaupt nicht vorhanden.
Am nächsten Vormittag erhielt sie Freddy wie verabredet zurück, am selben Ort, an dem sie ihn übergeben hatte. Miriam wich ihrem Blick aus und sagte: „Er konnte mir nicht helfen. Ich bin wohl ein hoffnungsloser Fall. Aber trotzdem … danke …“
Miriam sagte nicht: Das ist ja nur ein Stofftier. Und weil sie das nicht sagte, blieb sie Sonjas Freundin. Sonja lernte etwas aus der Geschichte: Freddy war für sie da, nur für sie alleine. Und Miriam musste einfach noch suchen, bis sie jemanden fand, der speziell ihr helfen konnte.
2
Palmsonntag 1977
Pfarrer Schindel hob kurz die Hand. „Wir gehen jetzt los“, sagte er leise, und die neun Konfirmanden setzten sich in Bewegung. Sechs Mädchen und drei Jungen in festlicher Kleidung mit viel Schwarz und Weiß, die Haare vom frischen Wind zerzaust, einer aufgeregter als der andere, die meisten schüchtern grinsend, ein paar ernst oder regelrecht verbissen.
„Einmarsch“, flüsterte einer der Jungen. Kurz darauf stolperte er und musste mit den Armen flattern wie ein aufgescheuchtes Huhn, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Lachen hinter ihm, verzweifelt unterdrückt. Zu den größten Sorgen der zu Konfirmierenden gehörte ein Lachkrampf an der falschen Stelle. Jeder Gedanke an etwas Witziges war jetzt ein Feind der Jungen und Mädchen.
Sonja und Miriam gingen steif nebeneinander her, hatten sich heute nichts zu sagen. Sonja, blond und zart, mit einem unscheinbaren Gesicht, das niemand hübsch oder hässlich zu finden schien, hatte sich von ihrer Großmutter eine strenge Frisur verpassen lassen, bei der ihre Haare auch zwei Stunden nach dem Frisieren noch an ihrer Gesichtshaut zerrten. Miriam, brünett, groß, mollig und weiblich, trug ein schwarzes Kleid mit etwas zu üppigen Rüschen und eine Kette mit einem kleinen Kreuz daran. In dieser Aufmachung wirkte sie nicht nur (wie sonst) zwei Jahre, sondern mindestens vier Jahre älter als Sonja. Man hätte sie für volljährig halten können, dabei war sie so vierzehn wie alle hier. Miriam schien in den letzten Jahren einfach schneller erwachsen geworden zu sein als die anderen. Ihre Frisur war kunstvoll und ebenfalls sehr erwachsen. Wenn man sie flüchtig ansah, konnte man denken, sie sei die Pfarrerin hier. Immerhin machte sie körperlich einen gesunden Eindruck, also lag Sonja mit ihrer Krankheitstheorie womöglich doch falsch.
Die Glocken läuteten schon seit Minuten. Neun Menschen an der Schwelle von der Kindheit zur Jugend, angeführt von dem schlanken kleinen Pfarrer in seinen frühen Fünfzigern, betraten die Kirche durch das Hauptportal.
Die Kirche stammte aus dem 18. Jahrhundert und war sichtlich für größere Besucheranstürme gebaut worden als man sie heutzutage erlebte. Das langgestreckte Kirchenschiff wurde von zahlreichen dicken, grobschlächtigen Säulen unterbrochen, was die
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