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Freddy - Fremde Orte - Blick

Freddy - Fremde Orte - Blick

Titel: Freddy - Fremde Orte - Blick Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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Der Mann, der beinahe getroffen worden wäre, ging in die Knie und hob den Gegenstand auf. Dann war sein Lachen zu hören, hoch und hysterisch. „Leute“, rief er, als befände er sich nicht in einem Gotteshaus, sondern auf dem Jahrmarkt, „macht euch keine Sorgen. Das Ding hätte mir kein Haar gekrümmt, wenn es mir auf den Kopf gefallen wäre. Es ist nur so eine Puppe.“
    Er streckte das Spielzeug in die Höhe, damit jeder es sehen konnte. „Puppe“ war vielleicht nicht das richtige Wort, denn es handelte sich um eine Action-Figur, einen muskulösen Mann mit roten Shorts. Die meisten Anwesenden sahen ihn nicht zum ersten Mal: Es war Big Jim. Eines seiner Beine stand in einem merkwürdigen Winkel ab. Vermutlich war bei dem Sturz etwas gebrochen. Nur – wie kam das Spielzeug an das Kirchengewölbe? Hatte es jemand geworfen? Aber es schien senkrecht von der Decke gefallen zu sein.
    Ganz rechts außen in der Reihe der Konfirmanden regte sich ein Junge. Es war Thorsten, ein fülliges, stilles Kind. „Er gehört mir“, flüsterte er und hob die Hand wie in der Schule, wagte aber offenbar nicht, vorzutreten und sich seinen Big Jim zu holen. Der Mann mit der Taschenlampe brachte dem Jungen die Figur. „Er ist kaputt“, wimmerte Thorsten. „Er ist kaputt.“
    Das Mädchen neben Thorsten begann zu kichern und sagte so laut, dass jeder es hören konnte, außer den schwerhörigsten unter den Opas und Omas vielleicht: „Bist du nicht ein bisschen zu alt, um deine Lieblingspuppe in die Kirche mitzubringen?“
    „Halt die Klappe, dumme Gans!“, lautete die Antwort. Überraschenderweise kam sie nicht aus Thorstens Mund, sondern aus der Bank hinter ihnen. Und nicht etwa ein Bruder von Thorsten hatte sie ausgestoßen (der Junge war ein Einzelkind), sondern sein Vater. Thorsten und das Mädchen wurden beide knallrot.
    „Er war draußen in meiner Tasche“, meldete sich der Junge kleinlaut. „Irgendjemand hat ihn reingebracht, um mich zu ärgern. Und jetzt ist er kaputt.“
    „Wer von euch ist für diesen dummen Streich verantwortlich?“, fragte Thorstens Vater mit anklagender Stimme. „Es ist doch wohl klar, dass wir den Schaden ersetzt bekommen. Und eine öffentliche Entschuldigung dürfte ebenfalls fällig sein.“
    Pfarrer Schindel blickte unglücklich von einer Ecke in die andere. In der Festgemeinde rumorte es. Manche pflichteten dem Vater des Jungen zu, andere empörten sich über die Störung der Feier, die meisten allerdings schickten verstohlene Blicke in das Gewölbe und schienen nur darauf zu warten, dass weitere Dinge vom Himmel fielen, sozusagen. Und solange der Mann mit dem Spitzbauch nicht an seinen Platz zurückging, fühlte der Pfarrer sich seiner Autorität beraubt. Schindel war ein herzensguter, aber schüchterner Mensch, der jeden Sonntag mit Herzklopfen auf die Kanzel stieg und seine meisten Gebete darauf verwendete, Gott um einen harmonischen, von Zwischenfällen freien Gottesdienst zu bitten.
    Unter Herzklopfen litt auch Sonja. Nicht nur Thorsten hatte ein Spielzeug mitgebracht. Falls der Witzbold, der die Big Jim-Figur aus Thorstens Tasche gemopst und in dramatischer Illusionisten-Manier wieder auftauchen lassen hatte, auch auf Freddy gestoßen war, würde Sonja die nächste sein, über die die Gemeinde lachte. Und was viel schlimmer war: Wenn Freddy beschädigt wurde wie Big Jim, würde Sonja entweder in Tränen ausbrechen oder einen Wutanfall bekommen. Vermutlich beides. Es durfte einfach nicht passieren! Freddy durfte nichts zustoßen. Sie hätte es nicht ertragen.
    Es war ein Fehler gewesen, ihn mitzubringen. Sie trug ihn schließlich auch nicht in die Schule oder ins Kino. Warum also in die Kirche?
    Wahrscheinlich hätte sie sich jetzt mit Thorsten verbunden fühlen müssen, aber sie fand keine Gemeinsamkeiten. Big Jim war ein Spielzeug. Freddy war … Freddy.
    Wieder erklang das Krächzen, und die Menschen verstummten. Bis auf Sonjas Onkel Werner, der mit halblauter Stimme sagte: „Ich denke, wir sollten mit der Zeremonie weitermachen. Lassen wir uns nicht von einer diebischen Elster stören. Vielleicht hat sie noch einen Ohrring erbeutet und lässt ihn irgendwann fallen, aber mit Ziegelsteinen dürfte sie wohl kaum werfen. Es besteht keine Gefahr.“
    Das zustimmende Gemurmel hielt sich in Grenzen. Die unterschiedlichsten Kommentare flogen zwischen den Sitzreihen hin und her: „Das ist keine Elster. Die Puppe wäre viel zu schwer für eine Elster.“ – „Er hat es doch im

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