Freiheit statt Kapitalismus
zementiert als ausgeglichen. Seit Jahren wächst die Zahl derer, die die Schule verlassen, ohne je richtig Lesen und Schreiben gelernt zu haben und bei Goethes
Faust
eher an die geballte Rechte eines Boxers denken. Dass Theater, Bibliotheken und Schulen zu den ersten Sparopfern finanziell ruinierter Städte und Gemeinden gehören, liegt im Trend. Nicht nur die sogenannte Unterschicht, die ganze Gesellschaft ist bildungsfern geworden.
Einst sollte privatwirtschaftliches Eigentum – durch Markt und Wettbewerb gelenkt und durch Gesetze gezähmt – Wachstum und steigende Produktivität garantieren. Heute droht den Industrieländern eine auf Jahrzehnte stagnierende Wirtschaft, deren produktive Substanz allmählich erodiert. Denn das Geld, das zur Finanzierung von Produktneuheiten gebraucht würde, wird im weltweiten Casino verzockt.
So spielen die großen Banken mit dem Wohlstand von Millionen Menschen Russisches Roulette. Und niemand stoppt sie. All die großen Versprechungen der Politik zu Beginn der Finanzkrise: vergessen und verdrängt! Alle neuen Regeln: weichgespült von der Finanzlobby bis zur Wirkungslosigkeit. Stattdessen wird weiter spekuliert, weiter gewettet, weiter getanzt auf dem unheimlich grollenden Finanzvulkan, von dem jeder weiß, dass er bald wieder ausbrechen und das wirtschaftliche Leben unter seiner Lava ersticken wird.
Alle positiven Ideen der Marktwirtschaft sind tot. Wo gibt es denn noch wirklich offene Märkte und echten Wettbewerb? Stattdessen haben sich mächtige Global Player die Märkte und die Politik unterworfen. Sie diktieren ihren Lieferanten die Konditionen und scheren sich kaum noch um die Zufriedenheit ihrer Kunden. Anstelle überlegenerQualität wird Größe und Marktmacht angestrebt, statt zu investieren Unternehmensmonopoly gespielt. Die Rendite steigt, indem wirtschaftliche Leistungsfähigkeit kleingespart wird. Mit sicheren Arbeitsplätzen verschwinden auch Fachwissen, Professionalität und Service. Gelder, die das Unternehmen für Forschung und Entwicklung bräuchte, werden im Shareholder-Value-Wahn ausgeschüttet und verbraten. Warum auch Gewinne ansparen, wenn man sich Subventionen vom Staat holen kann: für Forschung und Investitionen, oder auch für Kurzarbeit, wenn das wirtschaftliche Umfeld einmal trüber wird.
Persönliche Haftung, das Grundprinzip einer funktionierenden Wirtschaft, ist weiträumig außer Kraft gesetzt. Den Schaden tragen regelmäßig andere als die, die den Nutzen hatten. Entsprechend wenig Anlass zur Korrektur gibt es bei den Nutznießern.
Der Kapitalismus ist im Ergebnis all dessen keine Wirtschaftsordnung mehr, die Produktivität, Kreativität, Innovation und technologischen Fortschritt befördert. Heute verlangsamt er Innovation, behindert Investitionen und blockiert den ökologisch dringend notwendigen Wandel. Er verschleudert wirtschaftliche Ressourcen und lenkt menschliche Kreativität und Erfindungsgabe auf die unsinnigsten und überflüssigsten Betätigungen im Finanzbereich, die gleichwohl am höchsten bezahlt werden.
Die Regierenden Europas haben keine Ideen mehr, ebenso wenig wie die Ex-Regierenden, deren Opposition hohl und unglaubwürdig wirkt, weil sie sich in der Regel mit der Regierung in allen wesentlichen Fragen einig sind. Wie oft in niedergehenden Systemen besteht der letzte Ausweg überforderter Politiker in clownesker Realitätsverweigerung. So werden in Deutschland die Vernichtung von Millionen regulären Arbeitsplätzen und ihre Ersetzung durch immer mehr Billigjobs als »Jobwunder« gefeiert. Die europäische Rezession wird kleingeredet und wegprognostiziert, die Eurokrise von Gipfel zu Gipfel aufs Neue »überwunden«. Analysen, die auf hoffnungslos geschönten Annahmen beruhen, gaukeln uns vor, dass die Politik alles im Griff hat. Dass alles irgendwie gut enden wird. Vielleicht.
»Die Situation erinnert mich an die Endphase der DDR«, hat ein FDP-Politiker kürzlich über den Zustand seiner Partei gesagt. Das ließesich durchaus auf den Kapitalismus insgesamt übertragen, der sich mit grotesken Ovationen feiert und dabei immer schamloser selbst belügt. Mangels Konkurrenz wird er das allerdings wohl länger durchhalten als einst die DDR.
Wo jede Lebensregung sich rechnen muss, bleiben Freiheit und Menschenwürde auf der Strecke. Demokratie stirbt, wenn Banken und Wirtschaftskonzerne ganze Staaten erpressen und sich die Politik kaufen können, die ihnen nützt. Der Kapitalismus ist alt, krank und unproduktiv geworden.
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