Freiheit statt Kapitalismus
entscheidende Grund dafür sein, warum »in den Gesellschaften mit mehr Gleichheit die Menschen gesünder sind«. 230 Und zwar gilt das nicht nur in dem Sinne, dass die Reichen sich in der Regel einer besseren Gesundheit und längeren Lebenserwartung erfreuen als die Armen. Sondern es gilt, wie Pickett und Wilkinson nachweisen, auch für den Durchschnitt:
»Mehr Gleichheit [kommt] der gesamten Gesellschaft zugute: Alle sind gesünder, nicht nur die am unteren Ende der Stufenleiter.« 231
Homo oeconomicus oder soziales Wesen
Wenn aber das Wohlstandsgefälle innerhalb einer Gesellschaft eine entscheidende Größe für Gesundheit, Lebenserwartung und andere soziale Faktoren ist, dann bedeutet das, dass ein Abbau von Ungleichheit den Wohlstand aller oder zumindest den einer sehr großen Mehrheit mittelbar und unmittelbar erhöht. Mittelbar zum einen über den Ausbau der produktiven Kapazitäten einer Gesellschaft: Ausgeglichene Menschen sind leistungsfähiger, und ausgeglichene Kaufkraft motiviert, wie gezeigt, Qualitätsproduktion statt billiger Wegwerfware. Mittelbar zum anderen, weil hohe Ungleichheit aufgrund der geschilderten Auswirkungen erhebliche Kosten verursacht: Ungleiche Gesellschaftenbrauchen mehr Polizisten, Richter, Gefängnisse, Kliniken und Psychiater.
Aber mehr Gleichheit erhöht auch ganz unmittelbar die Lebensqualität der Menschen, weil der Mensch seiner biologischen Verfassung nach eben kein egoistischer
Homo oeconomicus
, sondern ein zutiefst soziales Wesen ist. Ein Wesen, dem die Fähigkeit zur Einfühlung in andere Menschen und zu sozialem, kooperativem Verhalten in die Wiege gelegt ist, wobei diese Fähigkeit sich entfalten oder auch verkümmern kann. Die Nobelpreisträgerin Elinor Ostrom weist in ihrer Arbeit über »Die Verfassung der Allmende« darauf hin, dass Menschen eine angeborene, evolutionsgeschichtlich entstandene Fähigkeit zur Einhaltung sozialer Regeln und zur Kooperation besitzen. Auf dieser Fähigkeit beruhte historisch das Funktionieren der Allmende-Güter, also von Gütern in Gemeinbesitz, bei denen es überlebenswichtig war, dass sie kein Einzelner durch Übernutzung zerstörte. 232
Erich Fromm schreibt über die Unvereinbarkeit von menschlicher Liebesfähigkeit und Kapitalismus: »Wenn der Mensch zur Liebe fähig sein soll, muss der Mensch selbst an erster Stelle stehen. Der Wirtschaftsapparat muss ihm dienen und nicht er ihm. … Die Gesellschaft muss so organisiert werden, dass die soziale liebevolle Seite des Menschen nicht von seiner gesellschaftlichen Existenz getrennt, sondern mit ihr eins wird.« Eine Gesellschaft, die das nicht gewährleiste, werde irgendwann »an ihrem Widerspruch zu den grundlegenden Bedürfnissen der menschlichen Natur zugrunde gehen«. 233
Wohlstand ist mehr als Einkommen
Das Gesamtbild einer Volkswirtschaft gewinnt erst präzise Konturen, wenn man ihre Fähigkeit bewertet, das Leben zu verlängern und seine Qualität zu steigern, argumentiert der indische Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Amartya Sen. Das Einkommen sei dabei nur eines von mehreren wichtigen Kriterien. Gerade deshalb geht es im Rahmen einer neuen Wirtschaftsordnung auch nicht einfach um Einkommenssteigerungen. Gutes Einkommen ist wichtig, um sich die Dinge leisten zu können, die heute einen hohen Lebensstandard ausmachen. Aber gutes Einkommen allein ist noch nicht Wohlstand. EinLeben in Wohlstand schließt ausreichende Freizeit, Freiheit von Stress und Angst und ein Lebensumfeld, das soziale Bindungen zulässt und fördert, ein. Materieller Wohlstand, der um den Preis des Verzichts auf all das erkauft wird, ist in Wahrheit keiner.
»Der flexible Mensch, den der Turbokapitalismus braucht, ist überall, nur nicht bei sich,« schreibt Roger de Weck. 234
Ein Mensch, der nicht bei sich ist, sondern in Widerspruch zu seinen sozialen Anlagen lebt und sich den Wolfsgesetzen der Konkurrenz, der Selbstsucht und des Egoismus unterordnet, ist auch nicht frei. Während der neoliberale Marktfanatiker Milton Friedman meinte, »dass der Kapitalismus eine notwendige Voraussetzung für politische Freiheit« 235 sei, verhält es sich in Wahrheit gerade umgekehrt:
Der Kapitalismus ist zum wichtigsten Hinderungsgrund für ein Leben in Freiheit, Demokratie und Wohlstand geworden. Deshalb lautet die politische Forderung unserer Zeit: Freiheit statt Kapitalismus.
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