Fremde Wasser
ihren Daimler aus der Garage holt, sondern mit der Straßenbahn in die Stadt fährt.
Jedes Mal kommt sie kopfschüttelnd zurück, klagt über die verantwortungslosen Mieter, die sie durch ihre Unachtsamkeit in
den Ruin treiben und die die Gutmütigkeit der Familie schamlos ausnutzen würden. So prägt sich dem kleinen Stefan schon früh
die Überzeugung ein, dass Mieter eine geheimnisvoll minderwertige und rücksichtslose Spezies von Menschen seien; Menschen,
die seine Mutter abwechselnd »Zigeuner« oder »Gauner« nennt.
Bevor die Mutter jedoch zu ihrer Inspektionsreise insunbekannte Mieterland aufbricht, schließt sie sich im zweiten Stock in dem kleinen Büro ein, in dem ein Schreibtisch aus Holz
mit einer knatternden elektrischen Rechenmaschine steht. Dort erstellt sie auf dünnen Bögen mit Durchschlagpapier handschriftliche
Listen für die Mieter, auf die sie mit klarer und großer Schrift »Nebenkosten« schreibt und auf denen sie mit einem hölzernen
Lineal Tabellen zeichnet, in deren Spalten sie die Forderungen für Wasser-, Elektrizität-, Heizung-, Müll- und Verwaltungskosten
einträgt.
In diesen Tagen bekommt das Gesicht seiner Mutter einen sonderbar spitzen Ausdruck, etwas Mausartiges und Verhuschtes, etwas,
vor dem sich Stefan und Karin schon als Kinder fürchten. Sie dürfen die Mutter in diesen Tagen nicht stören, sie hören durch
die verschlossene Tür das Rattern der Rechenmaschine und das pausenlose Schimpfen der Mutter über die Mieter, die ihr diese
Arbeit nicht im Geringsten danken würden.
Erst nach ihrem Tode, als Crommschröder ihre Unterlagen sichtet und überprüft, stellt er fest, dass diese Abrechnungen fast
nie stimmten, manchmal betrog sie die Mieter nur um einige Mark, oft waren die Abrechnungen jedoch doppelt so hoch wie die
tatsächlichen Kosten. Auf diese Weise hatte seine Mutter beträchtliche Rücklagen gebildet.
Crommschröders Vater ist Beamter. Er arbeitet im Kultusministerium unten im Kessel, wird dann, als Stefan schon zwölf Jahre
alt ist, ins Staatsministerium befördert. Über die konkrete Tätigkeit des Vaters können sich weder der Junge noch seine Schwester
ein genaues Bild machen. Auch heute, nachdem sein Vater nun schon viele Jahre tot ist, weiß Crommschröder nichts über dessen
genauen Aufgabenbereich.
Die Geburt der Tochter ist für den Vater eine große Enttäuschung. Umso größer sind die Erwartungen, die er in den nachgeborenen
Sohn setzt.
Von den Erziehungsmaximen seines Vaters bleibtCrommschröder die wichtigste unvergessen: Immer besser sein als die anderen.
Wenn du immer besser bist als die anderen, kann dir im Leben nichts passieren.
In den unterschiedlichsten Variationen erfolgt diese Mahnung: In der Klasse muss für alle klar sein, dass du besser bist als dein Banknachbar.
Der Vater hat ein System von Belohnung und Bestrafung entwickelt, das nicht einfach gute Noten belohnt, wie das andere Väter
tun. Belohnt wird Stefan nur, wenn seine Arbeiten besser sind als der Klassendurchschnitt. In den ersten beiden Jahren am
Eberhard-Ludwigs-Gymnasium ruft der Vater nach einer Klassenarbeit regelmäßig die Lehrer an, um die Durchschnittsnote zu erfahren.
Stefan ist das peinlich, den Lehrern lästig. Sie schreiben schon bald in Stefans Heft nicht nur seine individuelle Note, sondern,
um den väterlichen Anrufen zu entgehen, auch die Durchschnittsnote in Klammern dazu. Das ist sein Maß.
Hin und wieder erscheinen Freunde aus Vaters rotarischem Club zum Essen, ein Ereignis, das bei Mutter und Kindern gleichermaßen
gefürchtet ist. An diesen Abenden muss alles besser sein, als es die Gäste erwarten: das Essen ausgefallener, der Wein edler,
die Kerzen zahlreicher, die Tochter braver, der Sohn sauberer, die Mutter charmanter, aufmerksamer und liebevoller, die Wohnung
exklusiver, die Zigarren teuerer, die Musik gedämpfter.
Am Tag danach führt der Hausherr die nicht minder gefürchtete »Manöverkritik« mit der Familie durch. Es hagelt Beurteilungen
für Betragen von Frau und Kindern, Küche und Weinkeller (für den allein er zuständig ist und der daher immer erstklassig benotet
wird).
Alles soziale Lernen vollzieht sich bei Stefan C. Cromm-schröder unter dem Druck der Konkurrenz. Das »Du musst besser sein
als andere« ist die Erziehungsmaxime seiner Kindheit. Ohne Chance auf freie Wahl hat er schon mit zehnJahren dieses Prinzip völlig verinnerlicht. Wo immer er in Zukunft auftreten wird,
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