Fremde Wasser
so. Hansl muss jedoch meistens
die Hosen und Pullis seiner älteren Geschwister auftragen. Eines Tages erscheint er in einem Benetton-Pullover mit V-Ausschnitt.
Stolz trägt er ihn. Jeder weiß, dass er monatelang dafür gespart haben muss.
Aber in was für einer Farbe! Pink!
Völlig daneben! Naserümpfen, hochgezogene Augenbrauen und herablassendes Lachen allenthalben.
Magda organisiert die Aktion. Am nächsten Tag erscheinen alle Mädchen der Klasse in pinkfarbenen Benetton-Pullovern mit V-Ausschnitt.
Sie haben einen Heidenspaß. Hansl weigert sich danach eine Woche lang, zur Schule zu gehen. Seit jenem Tag ist Stefan von
Magda kuriert.
* * *
Als er bereits in die 13. Klasse geht, nimmt seine Mutter einige Pillen zu viel. Achtundzwanzig, um genau zu sein. Der Vater
ist wütend. Er sieht es als ihren persönlichen Racheakt gegen ihn an, und vielleicht hat er damit sogar recht. Karin weint
tagelang. Stefan ist merkwürdig unberührt.
* * *
Im gleichen Jahr fährt er mit Karin und Thorsten in dessen altem VW-Variant nach Italien. Sie wollen die Kommunistische Partei
Italiens kennenlernen. Direkt hinter Comofährt Thorsten von der Autobahn. Sie kommen in ein Dorf, dessen Namen Crommschröder schon lange vergessen hat. Keiner von
den Dreien spricht Italienisch, aber Karin und Stefan radebrechen mit Hilfe ihrer Lateinkenntnisse. Sie fragen sich zum Ortsbüro
der KPI an der Piazza Antonio Gramsci durch, finden sie und verwickeln einen Arbeiter, den sie dort antreffen, in eine Diskussion
über revolutionäre Strategien. Der Genosse, dick und rund, kratzt sich am Kopf und stellt erst mal Brot, Oliven und eine Flasche
Rotwein auf den Tisch. Das Gespräch verläuft jedoch merkwürdig unbefriedigend für die drei, und sie wissen, dass es nicht
allein an ihren fehlenden Italienischkenntnissen liegt.
Die wahre Hochburg der Kommunisten sei die Toskana, sagt Karin. Hier, in der Nähe der Schweiz, sei das revolutionäre Bewusstsein
vielleicht doch nicht so entwickelt, wie sie sich das vorgestellt haben.
Sie fahren weiter. Suchen KPI-Büros auf. Überall werden sie freundlich empfangen. Überall gibt es Wein, Oliven, Brot und freundliches
Unverständnis. Aber die Lektion dieser Reise ist nicht eine in revolutionärer Strategie, sondern eine in Gastfreundschaft.
Sie erfahren eine Freundlichkeit, die sie weder auf der Halbhöhe noch unten in Kaltental je erlebt haben.
In konspirativem Ton erzählt Thorsten auf dieser Reise zum ersten Mal von dem alten Stuttgarter Kommunisten Eugen Seitzle.
Ein Schriftsetzer sei er, und nach dem letzten Streik habe er seine Arbeit verloren. Seitdem unterrichte er in seiner Wohnung
Schüler und Lehrlinge in den Marx'schen Schriften. Nicht jeder dürfe an diesen Sitzungen teilnehmen. Es sei schwer vorherzusehen,
wen er dort aufnehme und wen nicht. Ihn, Thorsten, habe er abgelehnt. Karin habe er angenommen.
Mehr muss Stefan C. Crommschröder nicht wissen. Der Stachel der Konkurrenz bohrt sich sofort in sein Fleisch. Er liegt seiner
Schwester so lange in den Ohren, bis sie verspricht, ihm Eugen Seitzle vorzustellen.
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G-G’
Stefan C. Crommschröder lernt Eugen Seitzle drei Monate später kennen. Seitzle bewohnt eine Zweizimmerwohnung im Erdgeschoss
eines Mietshauses in Stuttgart-Kaltental. Seit seine Frau vor mehr als zehn Jahren gestorben ist, verwandelt er nach und nach
das Wohnzimmer in eine Bibliothek und das Schlaf- in ein Studierzimmer. Dem dauernd anwachsenden Strom von Büchern, Zeitschriften,
Zeitungen, Flugblättern, Ausschnitten, Kunst- und Fotobänden sucht Seitzle Raum zu schaffen, indem er die Betthälfte seiner
Frau auf den Sperrmüll schafft und die ihm verbliebene Hälfte zum Hochbett umbaut. An allen Wänden, auch im Flur und sogar
in der Toilette im Treppenhaus, stehen vollgestopfte Holzregale, deren Böden teilweise bedenklich durchhängen. Die Küche ist
Bibliothek und Sitzungszimmer zugleich, in minimaler Grundausstattung dient sie zudem den Seitzle'schen Grundbedürfnissen
an Hygiene und Nahrungsaufnahme.
Eine vergleichbare Wohnung hat Stefan Crommschröder noch nie gesehen. Als er zum ersten Mal in der legendären Seitzle'schen
Küche steht, wagt er es nicht, sich zu setzen. Ihn überkommt eine ehrfurchtsvolle Stimmung, so, als habe er einen revolutionären
Tempel betreten, einen mystischen Ort des Geistes und der Erkenntnis, die Stätte seiner zukünftigen kommunistischen Weihen.
Seitzle ist Arbeiter,
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