Fremde Wasser
schaut er sich nach jemandem um, dem er
beweisen muss, dass er der Bessere ist.
Gleichzeitig hat seine frühe Kindheit auch etwas Behütetes. Als Kind kann er sich nicht vorstellen, dass es Familien gibt,
die keine zwei Daimler in der Garage stehen haben, oder dass es Mütter gibt, die dienstags nicht nach München fahren, um auf
dem Viktualienmarkt einzukaufen. Dort oben auf der Halbhöhe, dem Killesberg, kennt man es nicht anders.
Karin, seine ältere Schwester, wird vom Vater allein deshalb weitgehend missachtet, weil sie ein Mädchen ist. Vom Verhalten
der Tochter hat der Vater keine genaue Vorstellung. Das Weibliche irritiert ihn ohnehin mehr, als dass es ihn erfreut, und
so genügt es, wenn Karin fröhlich, sauber und zurückhaltend erscheint – äußere Attitüden, die sie sich antrainiert, um dann
von allen unbemerkt ihr eigenes Innenleben zu entdecken und zu formen und die Welt auch außerhalb der Halbhöhe zu erkunden.
Die Schwester, auf der die geballte Aufmerksamkeit des Vaters nicht lastet, wird für den jüngeren Bruder zum Fenster in die
Welt. Sie wiederum erkundet an ihm die Eigentümlichkeiten des männlichen, wenn auch noch kindlichen Körpers und zeigt dem
Jüngeren, was bei ihr alles anders ist, nun knospt und erwacht. Das Verbotene daran reizt sie mehr als alles andere. Sie entdeckt
als Erste die kleinen Pillen im Alibertschrank im Bad, ohne die die Mutter nicht mehr leben kann. Und sie findet auch die
passende Musik. »Mother's Little Helper« von den Stones ist für einige Monate ihre geheime Erkennungsmelodie.
Karin ermöglicht ihrem Bruder kleine Fluchten. Als der SDR die Sendung »Jugendliche fragen – Prominente antworten« überträgt,
ist sie im Team der Jugendlichen dabei. Zum ersten Mal erlebt sie bei ihrem Vater so etwas wie erstaunten Stolz, gerade so,
als würde er jetzt erst feststellen, dass ernoch ein zweites Kind hat. Aber da ist es ihr bereits egal. Sie setzt durch – zu Hause und beim Sender -, dass auch der kleinere
Bruder mitmachen darf. Damit öffnet sie ihm eine neue Sphäre – außerhalb des väterlichen Einflusses. Die Jugendlichen, die
er im Sender kennenlernt, sind auf eine diffuse Art links. Es ist die Zeit der Nachrüstungsbeschlüsse einer SPD/FDP-Koalition
und der Proteste dagegen. Karin fährt mit zu den Demonstrationen und verdeckt ihre Aktionen zu Hause kaum.
Zu den Sendungen des SDR erscheint Wolf Biermann, dessen hemmungslose Eitelkeit für die Jugendlichen eine rabiate Enttäuschung
ist. Linke hat man sich anders vorgestellt. Luise Rinser beeindruckt sie alle. Später wird Stefan in einem ihrer Bücher einige
Zeilen über diese Begegnung finden. Die Schriftstellerin schreibt über die »Stuttgarter Bürgerkinder«, die ständig von sozialer
Gerechtigkeit geredet, davon aber keine blasse Ahnung gehabt hätten.
Die Mutter braucht immer mehr Pillen, um es in dem lieblosen Haushalt auszuhalten. Sie wird vergesslich. Sie trinkt zu viel.
Bald liegt ihr Tagespensum bei drei Flaschen Weißwein. Karin hilft ihr bei den Mietsachen. Die Eltern haben zwei Häuser in
Kaltental gekauft. Arbeiterwohnungen, die sehr günstig zu bekommen waren. Karin begleitet ihre Mutter schließlich auch auf
den zweimal im Jahr unternommenen Inspektionsreisen.
Thorsten Hecht, der mit seiner Mutter in einer dieser Zweizimmerwohnungen wohnt, wird ihr erster Freund. Er steht kurz vor
der Gesellenprüfung. Drei Jahre lang hat er Schriftsetzer gelernt. Als er die Lehre begann, galt der Beruf als die Krone aller
Lehrberufe, nun dämmert ihm, dass er damit keine Zukunft haben wird. Und er weiß noch nicht, wie er das seiner Mutter klarmachen
soll.
Auch Stefan verliebt sich zum ersten Mal. In Magda, eine Schönheit, die vom Karlsgymnasium in seine Klasse gewechselt hat.
Sie ist blond und unfassbar erhaben. Wie eineHerrscherin nimmt sie die Huldigungen der Jungs und die Freundschaftsangebote der Mädchen an oder verwirft sie, nach Regeln
und Launen, die Stefan völlig willkürlich und undurchschaubar erscheinen. Sie konkurriert nicht mit den anderen Mädchen, so
wenig wie eine Königin mit Zofen konkurriert. Stefan leidet ein Jahr lang an ihrer Nichtbeachtung, und manchmal glaubt er,
dass er daran sterben wird.
In seine Klasse geht auch Hansl, der Pfarrerssohn. Hansl hat acht Geschwister. Seine Eltern haben wenig Geld, und in der Klasse
gibt es bereits strenge Dresscodes. Lacoste ist angesagt. Benetton, na ja, das geht gerade noch
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