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Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
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kam, in die Richtung Aeis, denn er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, sich zu orientieren. Seine Gedanken waren unter einer Überlast von Panik und abergläubischem Entsetzen vollständig verschwunden. Doch sein Körper kannte den Befehl, so schnell wie möglich zu rennen, und dafür waren das trockene harte Pflaster unter den Füßen und die plötzliche Befreiung von den Schneelasten ein Segen. Er rannte.
    Irgendwo in der rauchigen Nacht hinter ihm ertönte ein weiterer Schrei. Er war bereits leiser durch die Entfernung, wurde noch leiser, verklang.
    Farber rannte weiter.

17
     
    Später konnte sich Farber kaum an den Rückweg nach Aei erinnern. Kälte, krampfhafte Bewegungen, Dunkelheit, die Sterne in einem eisigen, prachtvollen Tanz um seinen Kopf, der rasselnde Ton seines Atems, laut und häßlich in seinen Ohren. Er rannte oder trabte fast die ganze Strecke, wurde nur gelegentlich etwas langsamer, wenn er erschöpft war, rannte aber stets weiter, wenn er wieder Luft bekam. Er sah sich nicht um. Manchmal stolperte er im Dunkeln und fiel – rollte sich ab, wenn er Glück hatte, knirschte mit den Zähnen und schnitt sich auf Steinchen und Kies –, aber immer erhob er sich unmittelbar danach wieder. Er rannte, weil es praktisch war, ein Mittel gegen die erstaunliche Kälte, aber er rannte auch, um dem Grauen zu entkommen, das ihm wie ein riesiger schwarzer Schatten nachgeisterte, stehenblieb, wenn er stehenblieb, ihn ohne Augen beobachtete, ihm folgte, wenn er wieder losrannte, geduldig und unermüdlich.
    Irgendwo kurz vor Aei fing es ihn ein, verschluckte ihn mit einem einzigen samtigen Biß, und er konnte wieder denken. Unhaltbar krabbelten die Gedanken über die blanken Flächen in seinem Kopf. Mein Gott, wie sollte er das Liraun beibringen? Sie würde ihm nicht glauben! Wie konnte sie ihm das glauben? Wie konnte er sie überzeugen, wie konnte er sie dazu bringen, diese monströse Täuschung zu durchschauen, die man den Frauen ihrer Rasse vorspielte – seit wieviel Jahrhunderten schon? Jahrtausenden? Wie viele Opfer in all der Zeit? Das Entsetzen und Mitleid drückte ihm das Herz zusammen. Stell dir vor, unzählige Millionen von Frauen, die leichtgläubig zum Schlachthaus gingen, fröhlich den Ritualen zustimmten, ohne zu merken, wo es sie hinführte, glaubten die frommen Lügen der Schlächter. Und dann das Gebärhaus. Die Tür schloß sich hinter ihnen, der plötzliche Schrecken und der Schock, die Messer. Mord. Das unwürdige heimliche Begräbnis in den Bergen. Und das alles wegen eines dunklen Aberglaubens, einer gottverfluchten Paranoia, einer mörderischen religiösen Irreführung! Die Pastellfarben der Neustadt winkten ihm träge von weitem, und wahnsinnig rannte er fiebernd und zitternd auf sie zu.
    An der Kreuzung der Nordstraße mit dem Flußweg fiel er zum letzten Mal und am heftigsten, glitt die Böschung auf dem Bauch etwa dreißig Meter weit hinab, grub sich den Kies tief in Gesicht und Hände. Der Schock ließ ihn einen Moment reglos liegen bleiben, friedlich auf die Ellbogen gestützt in der Dunkelheit, unter gehetzten Atemstößen. Als er den Kopf hob, wurde sein Blick unwiderstehlich von den niedrigen Dächern von Aeis Neustadt angezogen, dann von dem drohenden Obsidianfelsen darüber – ein so eindrucksvoller Berg, daß er jeden Blick auf sich zog, von welcher Richtung aus man auch immer hinsah – und schließlich, als er den Kopf zurücklehnte, um das Bild in sich aufzunehmen, von der Säule aus schwarzem Fels bis zu dem kalten Stein an der Spitze. Altstadt von Aei. Als er sie anstarrte, spürte er eine Welle so durchdringender komplexer Gefühle, daß seine Sicht verschwamm und die Altstadt auf ihrer Klippe tanzte und schimmerte.
    Dann ging er durch die schmalen, geheimnisvollen Straßen.
    Schwarzer Felsen. Hohe Mauern. Verrammelte Türen. Entlang der Esplanade, den Drachenhügel hinauf.
    Die Row. Sein Haus. Orangenes Licht strömte aus den Fenstern. Als er hinaufging, öffnete sich die Tür und Jacawen kam heraus.
    Die beiden Männer blieben stehen und sahen einander an. Dann schloß Jacawen die Tür hinter sich und kam langsam auf ihn zu. Bisher hatte Farber Panik, Terror und Entsetzen verspürt. Er hatte noch nicht die Zeit gehabt, wütend zu sein. Doch jetzt überrollte ihn eine riesige Welle von Verachtung und Zorn, als er die kleine, nüchterne Gestalt langsam auf sich zugeistern sah. Es lag einzig und allein an Leuten wie Jacawen, den Schattenmenschen, mit der widerwärtigen

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