Fremden Kind
Bunker, Mattocks, aus der Arts-and-Crafts-Bewegung. Unverheiratet«, sagte Raymond nüchtern.
»Kapiere.«
»Er hat mit seiner Schwester zusammengelebt, die Mitte der Siebzigerjahre gestorben ist. Danach wurde aus Mattocks ein Altersheim, vor ein paar Jahren geschlossen, alles zugenagelt, Jugendliche sind eingestiegen, ein bisschen Vandalismus, aber nicht allzu schlimm. Jetzt soll es abgerissen werden.«
»Hector hat es wohl schon geplündert, was?«
»Es war nicht mehr viel zu holen.«
»Tja, die alten Leutchen …«
Raymond knurrte. »Diebe haben die schönsten Buntglasfenster herausgebrochen. Hector hat ein, zwei Kamine gerettet. Es gab noch einen Tresorraum, den bisher keiner betreten hatte, aber Hector hat das nicht lange abgehalten. Anscheinend nichts Wertvolles drin, nur Papierkram und anderes Zeug aus Hewitts Zeit.«
»Unter anderem das Büchlein, das du in der Hand hältst.«
Raymond übergab es ihm, wobei die Schnalle aus dem Messingscharnier fiel. »Wir mussten es leider aufbrechen.«
»Oh …« Rob kam es verdächtig vor, dass jemand, der Tresorräume aufbrechen konnte, bei so einem simplen Buchverschluss eine Metallsäge angesetzt hatte. Einem hübschen Buch außerdem, Goldbordüre an der Innenkante, dicker Goldschnitt, die goldgesäumten Vorsatzpapiere purpurrot marmoriert, Einband von Webster’s, »Hoflieferant, Queen Alexandra«. Rob schmerzte die Beschädigung sichtlich, ganz abgesehen von der Wertminderung. Etwa hundert, in gräulicher, blauschwarzer Tinte eng beschriebene Seiten, und da, wo die Eintragungen aufhörten, war zur Markierung ein malvenfarbenes Löschpapier eingelegt.
»Guck es dir an«, sagte Raymond. »Tasse Tee?«
Nachdem er mit einem schrillen quietschenden Geräusch eine Garderobe verschoben hatte, richtete er Rob aus einer Chaiselongue, einem Nachtschränkchen und einer Stehlampe ein winziges improvisiertes Wohnzimmer ein und bat ihn, Platz zu nehmen. Der Tee wurde in einer feinen Porzellantasse mit Untertasse serviert. Raymond hockte sich wieder vor seinen Computer, und Rob hörte ihn von seiner Kabuse aus tippen, vernahm leise Musik und Gespräche.
Zunächst war Rob nicht klar, was er da eigentlich las. »27. Dezember 1911 – Mein lieber Harry – wie soll ich Dir für das Grammofon danken, besser gesagt, das Sheraton Upright Grand, wie sein offizieller Titel lautet! Es ist das prächtigste Geschenk, das man sich vorstellen kann, Harry, alter Knabe. Du hättest das Gesicht meiner Schwester sehen sollen, als zum ersten Mal der Deckel geöffnet wurde – das war ein Anblick, Harry! Meine Mutter meint, es sei einfach überirdisch, Mr McCormack in unserem bescheidenen Wohnzimmerchen so herzerweichend singen zu hören! Du musst bald mal vorbeikommen und ihn mit eigenen Ohren hören, Harry. Ein schlichtes Dankeschön ist völlig unzureichend, Harry, alter Knabe. – Alles Liebe, immer Dein Hubert.«
Die Handschrift war klein, energisch und kompakt. Unmittelbar unter einer mit Lineal gezogenen Linie fing der nächste Brief an.
11. Januar, 1912 – »Lieber guter, alter Harry! – Tausend Dank für die Bücher. Schon allein die Einbände, wie hübsch, und Sheridan ist bestimmt einer der besten Schriftsteller. Meine Mutter meint, wir sollten die Stücke mit verteilten Rollen lesen, Harry, und Du sollst unbedingt auch eine übernehmen! Daphne ist sogar bereit, sich dafür schick zu machen! Du weißt, Harry, alter Knabe, ich selbst bin kein so guter Schauspieler. Bis morgen, halb acht. Du bist wirklich zu gut zu uns. Alles Liebe, Dein Hubert.«
Also eine Art Briefbuch mit Abschriften des dankbaren »Hubert«? Eher unwahrscheinlich, dass er sich was auf seine eigenen Briefe einbildete. Dann also vom Empfänger, ebenfalls einem gewissen »H«, transkribierte Briefe? Um sie unsterblich zu machen, wenn das das angemessene Wort war. Es waren so viele Dankesbriefe darunter, dass man von übersteigerter Eitelkeit sprechen könnte. Rob stellte sich die reiche alte Tunte vor, wie sie am Schreibtisch saß und Briefe an sich selbst schrieb: »Mein lieber Harry!«, schrieb Harry. Rob überflog die nächsten Seiten, ohne große Erwartungen, hielt die Augen offen nach aussagekräftigen Namen … Harrow, Mattocks, Stanmore, tiefste Provinz – dann plötzlich Hamburg, »wenn Du aus Deutschland zurückkommst, Harry« – na gut, man wusste, dass er Geschäftsmann gewesen war. Etwas missmutig trank Rob einen Schluck Tee. Es war etwas kühl in Raymonds Geschäftsräumen. »Ich wäre Dir
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