Soutines letzte Fahrt: Roman (German Edition)
Chinon, 6. August 1943
Sie werfen mit einer kräftigen Bewegung die beiden schwarzen Flügel der Hintertür zu. Ein scharfes Klicken wie von einer Waffe, ein trockenes Einschnappen ins wartende Schloss. Ein Ruck geht durch das Auto, aufgeschreckte Tauben fliegen voller Panik über das Dach des Krankenhauses ins Blaue hinauf. Es ist, als ob ein kurzes Lachen hereinfahre ins schwarze Ungetüm. Es muss vom Älteren stammen, der Junge, der einen Wollschal um den Hals trägt, erkältet jetzt im August, wie das besetzte Land, hätte es nicht gewagt. Nein, der Maler muss sich getäuscht haben. Es konnte kein Lachen sein. Der Chef schärft es den Angestellten am ersten Tag ein, dass es in diesem Beruf keine Witze über die Toten gebe, nur stille Würde, schlichte Pietät. Das ist man den Hinterbliebenen schuldig und dem guten Ruf der Firma.
Nur ist alles anders an diesem prächtigen Augusttag. Es ist ein lebender Toter, den sie im Leichenwagen, einem schwarzen Citroën, Modell
Corbillard
, nach Paris zu bringen haben. Das Auto hat schon viele alte und junge Leichname zur letzten Ruhestätte begleitet. Es ist ihr großes stilles Tier, das sie hüten und pflegen. Nach jedem Einsatz muss es mit dem Schwamm sauber geputzt und mit dem Leder abgerieben werden. Der Chef kontrollierte selber, und er ist gnadenlos. Ein verschmutzter Leichenwagen ist undenkbar, das Unternehmen legt Wert auf goldene Sauberkeit, auch in Kriegszeiten. Noch nie haben die Fahrer eine lebendige Leiche transportiert.
Irgendein Maler soll es sein, ein Arzt hat das Wort auf dem Flur beiläufig ausgesprochen. Sie müssen ihn zur Operation nach Paris bringen, es geht nicht anders, die Engel wollen es so. Doch wie ist es möglich, dem Besatzer eine Nase zu drehen, dem gepanzerten Riesenauge, das jeden Schritt kontrollieren will? Ein metallisches kurzes Geräusch, wie ein gepresstes, schmerzhaftes Auflachen der Tür. Wie das Klicken einer Waffe. Es riecht betäubend nach Lindenbäumen. Gibt es welche neben der Klinik? Vielleicht ist es nur die Karbolsäure, die der Maler im zerknitterten Klinikhemd mit sich trägt, das Aroma der Operation.
Der Maler murmelt vor sich hin, er scheint jemanden immer wieder anzusprechen, ein beschwörendes Summen um die Lippen, doch die beiden Bestatter verstehen ihn nicht, er spricht zu leise, und die Laute seiner Sprache sind ihnen unbekannt.
Kommt ihr von der Bruderschaft … habt ihr die Sargenes dabei … Chewra Kaddischa … ins Wasser muss ein Ei geschlagen werden … die neue Leich soll mit Leben gewaschen werden … wenn es nicht zu spät ist … kommt er selber … vergiss das Ei nicht … es muss ins Wasser hinein … das Ei blüht im Wasser …
Die beiden Bestatter sehen sich fragend an und schieben ihn auf der metallenen Bahre hinein in den Bauch des Leichenwagens. Es ist der 6. August 1943. Es ist Sommer und Krieg. Das ist ein besetztes Land. Sie wissen, was geschehen würde, wenn sie den Besatzern vor die schwarzen Läufe gerieten. Die beiden Bestatter, der rundliche ältere und der hustende Junge, hätten getarnte Widerständler und Saboteure sein können, die ihre Werkzeuge im Leichenwagen transportierten. Hin zum Bahndamm, hinauf zu den Schienensträngen, ein paar eingeübte Handgriffe, und die Schienen fliegen in den Himmel.
Von den Kontrollpunkten auf den großen Anfahrtsachsen haben sie sich fernzuhalten. Ein hagerer namenloser Arzt kam plötzlich, als sie schon zum Ausgang gingen, aus einem Zimmer auf den Flur heraus, schlug den Blick nieder und drückte ihnen voller Verlegenheit die gelbe Straßenkarte mit dem blauen Michelin-Männchen in die Hand. Das lachende laufende Männchen,
Bibendum
nannten sie es, dessen Rumpf, Arme und Beine aus Autoreifen bestanden. Es lief manchmal mit drohenden bösen Augen durch die Träume des Malers. Wenn man die lebende Fracht aufspüren sollte, sind die Bestatter selber Leichen. Passagiere eines Leichenwagens haben Tote zu sein, nichts anderes. Keiner würde ihnen die Ausrede glauben, der Maler sei ein Scheintoter, der zu ihrer eigenen Verblüffung gerade von den Toten auferstanden sei. Gewisse Punkte sind unauffällig mit Bleistift verdoppelt.
Und die schwarzen Kerle mit dem Gammazeichen, schwärmen sie schon nördlich der Demarkationslinie aus? Seit Januar 43 sind Darnands Milizen unterwegs. Auf der Suche nach dem Widerstand und den Verweigerern des Obligatorischen Arbeitsdienstes. STO bleibt STO. Auch den Schwarzhändlern ist kein Fahrzeug heilig, nicht einmal ein
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